Open Password – Montag, den 7. März 2022
# 1038
Steilvorlagen 2021 – Sebastian Matthes – Handelsblatt – Sabine Graumann – Graumann Consulting-Dienste – Willi Bredemeier – Arbeitskreis Informationsvermittlung – Informationsvermittler – Aktualität – Handelsblatt Research Institute – Tunnelblick – Bert Rürup – Datenjournalismus – Infografiken – Archiv – Forschungsinstitut – Wirtschaftsjournalisten und Information Professionals – Wirtschaftsjournalismus – Transformation – Chefredakteur – Social Media als Konkurrenz und als Kanal – LinkedIn – News-Konferenz – Print-Konferenz – Männliche und Weibliche Leser – Journalistinnen – Bezahl-Blogs – Substack – Personenmarken – Podcasts – Podcast-Hörer – Handelsblatt Disrupt – Fangemeinde
Steilvorlagen 2021:
Sebastian Matthes, Chefredakteur Handelsblatt
Zwischen Headlines, Recherche und Twitter: Wie die Redaktion des Handelsblatt heute arbeitet
Wirtschaftsjournalisten und InfoPros: Gemeinsame Schnittmengen und Ergänzungen
Von Dr. Sabine Graumann, Graumann Consulting-Dienste,
und Dr. Willi Bredemeier, Open Password
Dritter Teil
Sebstian Matthes auf den Steilvorlagen 2021
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Mit Hilfe des „Handelsblatt Research Institute“ Geschichte in Zahlen erzählen. – Das Handelsblatt gegen den „Tunnelblick“.
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Sabine Graumann: Arbeiten Ihre Wirtschaftsjournalisten mit dem Handelsblatt Research Institute zusammen?
Sebastian Matthes: Aber ja. Der Präsident des Research Institute Bert Rürup ist Mitglied im Herausgeberbeirat. Das ist ein Beratungsgremium, mit dem ich mich intensiv austausche. Er ist ein Mal in der Woche mit einer großen Kolumne im Handelsblatt präsent. Bert Rürup, jahrzehntelang als Professor tätig, hat gerade im Bereich der Sozialsysteme eine unglaubliche Kompetenz, von der wir stark profitieren.
Auch ansonsten ist der Austausch sehr eng, insbesondere wenn es um Datenjournalismus geht. Wir haben ein großes Team an Infografikern, die die Daten, die wir aus dem Research Institute bekommen, aufbereiten. Digital müssen wir uns da noch deutlich verbessern. Gerade digital sehen wir, dass die Menschen von uns erwarten, dass wir Geschichten auch in Zahlen und Grafiken erzählen. So bestand gestern einer der am häufigsten gelesenen Geschichten aus Zahlen, die das Ausmaß der Ungerechtigkeiten im Bildungssystem zeigen. Mit Hilfe des Research Institute wurde es uns möglich, die Geschichte vollständig in Zahlen zu erzählen.
Dr. Sabine Graumann: Die Redaktion des Handelsblatt ist ein Auftraggeber des „Handelsblatt Research Institute“ und bezahlt es entsprechend?
Sebastian Matthes: Dazu gibt es interne Vereinbarungen und Verrechnungen. Früher war das Institut ein Teil des Handelsblatt. Damals waren vier oder fünf Personen beschäftigt, die nur für das Handelsblatt Daten recherchierten. Dann entwickelte sich das Archiv weiter zu einem Forschungsinstitut, das dann ausgegründet wurde. Es wurden weitere Wissenschaftler eingestellt, die Forschungsberichte abfassen. Nun kann also die Commerzbank oder jeder andere Auftraggeber dort Studien in Auftrag geben.
Sabine Graumann: Im „Handelsblatt Research Institute“ sind viele Information Researcher oder Consultants beschäftigt, aber auch Fachredakteure. Welche Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten gibt es zwischen dem Wirtschaftsjournalisten und dem Information Professional?
Sebastian Matthes: Ich denke, es gibt klare Schnittmengen, aber auch Unterschiede. Ein wesentlicher Unterschied ist vielleicht, dass die Kollegen im Research Institute mehr Zeit haben, sich mit Datenbanken und Zahlen usw. zu beschäftigen. Sie haben auch Zugriff auf mehr Rechercheinstrumente. Sie können sich ein Stück weit stärker vertiefen. Also wenn die Kollegen dort eine Studie über die Sozialsysteme erstellen, dann machen sie dies nicht an einem Nachmittag, sondern sie haben mehr Zeit, sich darin zu vertiefen und wissenschaftlich tätig zu sein. Es geht dort also weniger darum, in kurzem Takt exklusive Informationen und Erkenntnisse herauszubringen. Insofern würde ich das Research Institute eher als Ergänzung zur Wirtschaftsredaktion sehen. Es gibt sicherlich Schnittmengen, weil manche Kollegen auch in der Redaktion so arbeiten, aber es ist doch ein weitgehend anderes Geschäft.
Sabine Graumann: Aber die Bewertung von Informationen, die machen beide.
Sebastian Matthes: Ja, genau.
Sabine Graumann: Welche Empfehlungen geben Sie den Information Professionals mit, die zu Hause an ihren Bildschirmen sitzen?
Sebastian Matthes: Ich sollte dazu keine Empfehlungen geben, aber vielleicht eine Beobachtung aus meinen 15 Jahren im Wirtschaftsjournalismus mit Ihnen teilen. Gerade bei den Führungskräften in der Wirtschaft sehen wir, dass sie alle wahnsinnig viel lesen, aber immer selektiver in ihren Lektüren geworden sind. Wenn sie allgemeine Informationen aufnehmen, dann lesen sie vor allem die Pressespiegel, d.h. Berichte über ihre eigene Branche oder über ihr eigenes Unternehmen. Das breitere Lesen, also das Lesen über die eigene Branche hinaus, nimmt ab.
Das halte ich nicht nur aus Eigennutz für riskant. Natürlich wünsche ich mir, dass viele das Handelsblatt abonnieren und sich sehr breit informieren. Ich halte das aber auch aus einem anderen Grund für schwierig, weil wir jetzt in eine Phase gekommen sind, in der sich die Wirtschaft dramatisch verändert. Die Unternehmen und die Branchen können viel voneinander lernen. So kann man Fehler vermeiden oder Erfolgsrezepte von anderen prüfen und gegebenenfalls übernehmen – ein breites Wissen ist in dieser Phase wichtiger denn je. Ein Tunnelblick macht es schwer, die Transformation mit wirklich revolutionären Ideen anzugehen.
Sabine Graumann: Meine abschließende Frage an Sie: Wollen Sie in Ihrem zweiten Leben wieder Chefredakteur des Handelsblatt werden?
Sebastian Matthes: Chefredakteur zu sein ist ein wunderbarer Job, aber keine Position, die man planen kann. Auf jeden Fall möchte ich in meinem zweiten Leben wieder Journalist werden. Ich bin sehr glücklich, Journalist zu sein, gerade jetzt in der aktuellen Zeit, in der wahnsinnig viel passiert – im Guten wie im Schlechten. Es ist einfach toll, dies alles begleiten zu dürfen.
Sabine Graumann und Sebastian Matthes auf den Steilvorlagen 2021 im Gespräch
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Fragen aus dem Chat
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Social Media, für das Handelsblatt Segen oder Fluch?
Sebastian Matthes: Social Media sind natürlich, was die Aufmerksamkeit angeht, die die Menschen darauf verwenden, eine Konkurrenz. Aber Social Media sind auch ein sehr wichtiger Kanal – für mich persönlich wie für das Handelsblatt. Ich selbst versuche, über diesen Kanal mit Menschen zu diskutieren und meine Gedanken mit ihnen zu teilen. Das Handelsblatt ist bei LinkedIn der größte Publisher: Kein anderes Medium zeigt auf LinkedIn eine derart große Präsenz. Wir sehen LinkedIn als Möglichkeit, um mit mehr Menschen in Kontakt zu treten. Über Instagram erreichen wir mit einigen hunderttausend Kontakten eine Zielgruppe, die wir auf keinem anderen Weg erreichen würden. Die positiven Effekte von Social Media überwiegen deutlich.
Wie sieht der Zeitplan für die jeweils nächste Printausgabe aus?
Sebastian Matthes: Wir haben um 9 Uhr unsere News-Konferenz, die so abläuft wie beschrieben, und um 11:30 Uhr gibt es eine Print-Konferenz, in der das Print-Team bespricht, wo was hinkommt. Zwischen 15 und 16 Uhr beschäftige ich mich in der Regel noch einmal mit der Frage, was der Aufmacher wird und wie die zuletzt hereingekommenen News positioniert werden. Aber manchmal stehen der Aufmacher sowie ganze Seiten schon am Morgen fest.
Lesen Frauen anders als Männer?
Sebastian Matthes: Auf jeden Fall. Große Teile unserer Leserinnen sind an Start Ups und deren Unternehmern interessiert. Große Teile unserer Leser verfolgen unsere Berichterstattung über die Automobilindustrie. Das Handelsblatt ist immer noch ein Medium für männliche Leser, aber das ändert sich gerade. So ist der Anteil der Abonnentinnen in den digitalen Kanälen höher als bei der Printausgabe.
Die Wirtschaftsberichterstattung ist vor allem mit Männern besetzt.
Sebastian Matthes: Das ist ein Anlass zur Selbstkritik. Die Branche muss feststellen, dass es jahrelang keine systematische Förderung weiblicher Führungskräfte gab. Ich bin froh, dass ich in der Chefredaktion einen 50-prozentigen Frauenanteil habe, obgleich das nicht mein primäres Ziel war: Ich wollte schlichtweg die besten Kolleginnen und Kollegen haben. Wenn man den Frauenanteil in der Wirtschaftsberichterstattung erhöhen will, muss einem klar sein, dass dies nicht über Nacht geschehen kann, vielmehr bedarf es eines Zeitraums von drei bis fünf Jahren. Junge Kolleginnen brauchen auch eine Zeit, um in eine Sache hineinzukommen, um dann den nächsten Schritt zu gehen. Und auf dem Markt sind vergleichsweise wenige Journalistinnen zu finden.
Sind Bezahlnewsletter oder Bezahl-Blogs wie sie auf Substack von Autoren angeboten werden, die sich unabhängig gemacht haben, für das Handelsblatt eine Konkurrenz?
Sebastian Matthes: Substack ist eine sehr gute Plattform und ich bin froh, dass es sie gibt. Substack und andere Plattformen zeigen, wie breit heutzutage die Möglichkeiten für die Journalisten geworden sind. In den USA haben sich bereits namhafte Journalisten auf diese Plattform begeben, um ihre eigenen Produkte anzubieten. In Deutschland ist dies weniger verbreitet. Ich bin sicher, dass sich dies künftig ändern wird. Die Kolleginnen und Kollegen bauen über diese Kanäle ihre eigene Marke auf, verbinden ihren Namen mit einem Thema, sind bei einem Medium, entwickeln einen Newsletter und gehen dann mit diesem Newsletter zu einem anderen Medium. Auf der einen Seite profitieren die Journalisten von der Stärke ihrer Marken und umgekehrt profitiert auch das Medium von starken Personenmarken.
So etwas muss man fördern. Wenn ich mich über einige Newsletter ärgere, so deshalb, weil wir sie selbst hätten machen müssen.
Wie relevant sind Podcasts und Videos? Wie wichtig bleibt das Lesen?
Sebastian Matthes: Diese Fragen haben wir in den letzten Tagen mit unserem Aufsichtsrat intensiv diskutiert. Podcasts werden künftig eine viel größere Rolle spielen. Videos werden nicht so sehr nachgefragt. Podcasts sind auch im Vergleich zu Printtexten vorteilhaft, da man sie in Situationen nutzen kann, in denen ein Lesen nicht möglich ist, auf dem Laufband im Fitnessstudio beispielsweise, beim Joggen, beim Abwaschen und beim Aufräumen. Unsere Podcast-Hörer sind meistens zwischen 25 und 35 Jahre alt und ihr Anteil an unserer gesamten Podcast-Leserschaft ist noch einmal deutlich höher als der Anteil dieser Altersgruppe an der Nutzung unserer Webseite. Wir sehen, dass wir über Podcasts eine Bindung zu dieser Zielgruppe aufbauen. So betreibe ich einen Podcast, der „Handelsblatt disrupt“ heißt, wo ich mich jede Woche mit CEOs und Politikern mit Fragen des wirtschaftlichen Umbruchs und neuen Technologien auseinandersetze. Mittlerweile hat sich eine „eingeschworene Fangemeinde“ versammelt, so dass ich sehr oft Rückmeldungen bekomme, Lob und Kritik. Ich bekomme über diesen Kanal viel häufiger und dazu ein detaillierteres Feedback als auf meine Kommentare und Leitartikel.
Sabine Graumann: Herr Matthes, vielen herzlichen Dank für das Gespräch.
Sebastian Matthes: Ich habe zu danken.
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