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Pushdienst 2016#117
Buchmesse – Datenbankfrühstück – GBI-Genios – Künstliche Intelligenz – Textanalyse – Lecturio – Christian Bauckhage – Autonomes Auto – Cognitive Computing – Hyperintelligenz – Willi Bredemeier
Buchmesse
Datenbankfrühstück
Die Künstliche Intelligenz revolutioniert
unser Leben, aber wir verstehen sie nicht
Treibt „Kollege Software“ die Entwicklung
von Wissenschaft und Forschung
autonom voran?
Die bereits laufenden praktischen Anwendungen
Von Willi Bredemeier
Das Datenbankfrühstück von GBI-Genios existiert seit 1986 und ist damit unter allen Veranstaltungen der Informationsbranche jene, die bei weitem am längsten überlebt hat. Aber statt ein Programm mit Bart zu organisieren, präsentierte der Münchener Informationsanbieter nunmehr zum dritten Mal in Folge Science Fiction oder besser: Wie Big Data und Künstliche Intelligenz die kühnsten Träume der SF-Autoren hinter sich lassen.
Die GBI-Veranstaltung hat sich geradezu zu einem „Wasserstandsmelder“ für den aktuellen Stand der KI-Revolution entwickelt, die uns mit ihren Durchbrüchen und Anwendungen Jahr für Jahr aufs Neue überrascht. Allerdings sind die Entwicklungen mittlerweile so rapide geworden, dass die Informationsbranche auch die Big-Data-Veranstaltung vom Informationsring der Finanzdienstleister vor einem halben Jahr gut gebrauchen konnte. Nun war wiederum der neueste Status quo zur Kenntnis zu nehmen. Das sahen viele Multiplikatoren als wichtig an, so dass Tage vor dem Ereignis keine Anmeldung mehr angenommen werden konnte.
Dies ist ein Zeichen dafür, dass Information Professionals sehr wohl bereit sind, über den eigenen Tellerrand zu blicken, wenn das Thema zumindest indirekt relevant und der Referent voraussichtlich hervorragend ist. Eine ähnliche Erfahrung machte in diesem Jahr abermals die einen Tag später stattfindende „Steilvorlagen“-Veranstaltung, auf der der Leiter der wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Dr. Guido Heinen, mit seiner Darstellung der Fütterung des politischen Prozesses durch InfoPro-Dienste eine besondere Zustimmung erfuhr.
Gegenüber der Darstellung der KI-Revolution im Maritim im Schatten der gerade begonnenen Buchmesse mussten die Neuigkeiten bei GBI-Genios zurücktreten. Die interessanteste News war wohl, dass GBI-Genios unter dem Label „Lecturio“ mit zunächst 200 Video-Lernkursen in Volkswirtschafts- und Betriebswirtschaftslehre in den Bereich des multimedialen E-Learning eingestiegen ist. „Lecturio“ verspricht eine Ergänzung zu WiSo zu werden, also das Produkt, mit dem sich GBI-Genios an den Hochschulen etabliert hat. Darüber hinaus bekannte Geschäftsführer Werner Müller, dass er sich letztlich gelegentlich von der Leitung von GBI-Genios ablenken ließ und stellte auf einer Folie sein „Produkt des Jahres“, den gerade geborenen Sohn, vor.
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Was kann die moderne Textanalyse? Alles.
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Aber nicht nur diese Nachrichten, auch die Eurokrise, die Flüchtlingskrise und die imperialistischen Spielzüge Putins verblassen vor der Wucht, mit der uns die Anwendungen der Künstlichen Intelligenz mittlerweile erfasst haben. Prof. Dr.-Ing. Christian Bauckhage von dem Fraunhofer Institut IAO schlug in seinem Referat „Moderne Textanalyse – Neues Wissen für intelligente Lösungen“ die Referenten der Vorjahre bei der Vorstellung von Superlativen, indem er auf die Frage: „Was kann die moderne Textanalyse?“ antwortete: „Wenn neuronale Netze groß genug sind, können sie alles.“ Man müsste lediglich über ausreichende Trainingsdaten verfügen (vielleicht das Hundertfache der in einem Neuronalen Netz enthaltenen Elemente) und das Programm einem aufwendigen Training unterziehen (das dann gut und gerne ein halbes Jahr dauern kann).
Bauckhage setzte auf dieses Statement fast noch eines drauf, indem er die KI-Revolution (einschließlich der Entwicklung „übermenschlicher Gehirne“) als „unausweichlich“ kennzeichnete und folgerte: „Wir müssen das gestalten.“ Dem einzelnen riet er, auf jeden Fall jetzt einzusteigen, auch wenn die Anwendung, mit der man sich gegenwärtig engagieren könne, noch stark verbessserungsbedürftig sei. (Als Beispiel war die Sentimentanalyse angesprochen worden.). „Wir befinden uns in einer Revolution“, sagte Bauckhage. Deshalb schwebe man in der Gefahr, wenn man jetzt nicht handele, auf immer zurückgelassen und von weiteren Entwicklungen ausgeschlossen zu werden. Als Form des Engagements empfahl er: „Think big“ (also die Vision im Auge behalten) und angesichts aktuell bestehender Unsicherheiten nach einem Step-by-Step-Approach voranzuschreiten.
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Sollte sich GBI-Genios demnächst um eine bessere Balance in der Meinungsbildung unter den Multiplikatoren kümmern?
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Der Referent gestattete sich einen Anflug von Problembewusstsein, indem er Albert A. Bartlett zitierte: „The greatest shortcoming of the human race is our inability to understand the exponential function.“ Simpel übersetzt heißt das: „Die Entwicklungen verlaufen so schnell, dass wir gar nicht mitkommen können.“ Exponential, das bedeutet konkret, dass sich die Leistungsfähigkeit der Textanalyse in jedem Jahr verdoppelt. Das sei sogar, so Bauckhage, eine eher konservative Einschätzung. Dabei war eine automatische Textanalyse, so wie wir sie uns heute vorstellen, lange Zeit unmöglich gewesen, weil Sätze ohne eine ausreichende Berücksichtigung des Kontextes keinen Sinn ergeben und eine angemessene Programmierung des Kontextes zunächst nicht möglich war.
Dazu wurde in der anschließenden Diskussion das Beispiel der selbstfahrenden Autos erörtert. Bauckhage: Daimler könne seine autonomen Lkws bereits seit zwei Jahren auf die Autobahn schicken. Was das Unternehmen davon abhalte, sei die fehlende Genehmigung der Politik. Allerdings sei klar, dass die Lastwagenfahrer demnächst ihre Jobs verlieren würden. Angesichts der sich abzeichnenden Massenarbeitslosigkeit auch als Folge weiterer KI-Anwendungen sei es kein Zufall, wenn gegenwärtig in der Politik unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem ideologischen Lager über ein bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert werde.
Glücklicherweise war Bauckhage nicht selbst ein Produkt der Textanalyse, so dass es möglich blieb, ihn zu kritisieren. Massenarbeitslosigkeit im Zuge der Durchsetzung neuer Technologien ist regelmäßig prognostiziert worden und neue Technologiebereiche waren schon immer unique. Aber das vorausgesagte Ergebnis hat sich nur selten eingestellt, weil mit der Durchsetzung neuer Technologien auch neue Infrastrukturen und damit neue Jobs geschaffen wurden.
Zu denken gibt freilich, dass über die Gefahren der Künstlichen Intelligenz wohl in Großbritannien, nicht aber in Deutschland auf einer institutionellen Basis debattiert wird, weil die Deutschen nach einer kurzen Blüte der Technikfolgenabschätzung letztlich doch Technologie-Freaks geblieben sind. Hier könnte sich GBI-Genios gefordert sehen und im nächsten Jahr einen Referenten engagieren, der sich auch mal mit den Schattenseiten der neuen Entwicklungen auseinandersetzt und sich um eine bessere Balance in der bisherigen Meinungsbildung unter Multiplikatoren bemüht.
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Durchbrüche, Umbrüche und praktische Anwendungen.
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Gegenwärtig finde ein Paradigmenwechsel in der Künstlichen Intelligenz statt, so hatte Bauckhage sein Referat begonnen, weil große Datenmengen („Big Data“) verfügbar geworden seien und es innerhalb der Künstlichen Intelligenz zu technischen Durchbrüchen gekommen sei. Hilfreich sei auch, dass die Preise für High Performance Computer, die man für das Fine Tuning der Programme benötige, in den letzten Jahren stark gefallen seien.
Auch sei die Entwicklung durch den Einsatz von Sharing-Modellen beschleunigt worden. Dazu komme, dass Google (neuerdings auch Microsoft) seine gesamte KI open source gestellt habe. Damit folgen die Internet-Konzerne einem Erfolgsmodell, das seinerzeit von Bill Gates entwickelt wurde, indem er sein Betriebssystem verschenkte, um die Nutzer langfristig an sich zu binden. Auf ähnliche Weise hat es beispielsweise Google mit seinen Geschenken an Entwickler geschafft, dass weltweit 80 Prozent aller Smartphones auf Android laufen.
KI könne seit den 40er Jahren auf eine lange Geschichte zurückblicken, eine Entwicklung, die zunächst immer wieder durch Stagnationsphasen unterbrochen wurde. Mittlerweile dürfte jedoch eine sich selbst tragende Entwicklung auf Dauer eingetreten sein. Bauckhage machte die Fortschritte bei KI zunächst an sportlichen Ereignissen deutlich: 1979 wurde der Weltmeister von Backgammon von einem Softwareprogramm geschlagen. 1997 schlug Depp Blue den Weltmeister Kasparov im Schach. 2011 mussten die bisherigen Meister in der Show Jeopardy aufgeben. Und im März 2016 besiegte ein Softwareprogramm den Weltmeister im Go.
Dabei ist Go so komplex, dass Bauckhage noch wenige Jahre zuvor in einer Vorlesung behauptet hatte: Eine Besiegung menschlicher Intelligenz im Go-Spiel werde zu seinen Lebzeiten nicht stattfinden.
Von direkterer Relevanz waren die 2000er Jahre, weil KI-Anwendungen die Marktreife erlangten. Seit fünf bis sechs Jahren finden dramatische Durchbrüche im Cognitive Computing insbesondere in den Bereichen Textanalyse und -verständnis, Bildverständnis, Spracherkennung und Robotik statt. Nachdem Bauckhage lange Zeit in aller Ruhe vor sich hinforschen konnte, erlebt er aktuell eine Explosion der Aufmerksamkeiten in den Medien und in der Wirtschaft und weiß sich vor Anfragen nicht mehr zu retten. Demnach wissen wir inzwischen, dass wir unter den Bedingungen einer Exponentialfunktion leben, auch wenn wir sie nicht verstehen.
Dramatische Umbrüche finden derzeit bei den Banken, den Versicherungen, in der medizinischen Diagnose und in der Medikamentenentwicklung statt. In der Vorschau auf Bauckhages Referat waren auch die Verlage und die Unternehmensberatung genannt worden. Mittlerweile sind wir soweit, dass die Programme nicht nur Fragen beantworten, sondern Erkenntnisse ermöglichen, mit denen niemand gerechnet hat und die das Wissen der Menschheit bereichern. Der Referent nannte als Beispiel eine Analyse von Mammographien, die durchgeführt wurde, um Tumore zu entdecken. Das Programm erkannte jedoch, dass Veränderungen in der Struktur des Gewebes auf eine höhere Gefährdung durch Tumore aufmerksam machen. Der „Kollege Software“ treibt demnach bald die Entwicklung von Wissenschaft und Forschung autonom voran?
Als Beispiele für bereits laufende Anwendungen nannte Bauckhage die Vertragsanalyse, das Semantische Textretrieval, die Zusammenfassung von Dokumenten und die Automatische Textgenerierung. Derzeit fürchten viele Harvard-Absolventen, keinen Job zu bekommen, weil die High Potentials früher nach dem Eintritt in eine Kanzlei zunächst mit der Prüfung von Verträgen befasst wurden, die Maschine aber nunmehr besser ist als sie. Die Zusammenfassung von Texten kann dazu dienen, Redundanzen zu eliminieren und Sachverhalte sprachlich klarer zu fassen. Mit der automatischen Generierung von Texten ist nicht nur der Journalismus gemeint, wo sich die maschinelle Textung in der Sport- und Wirtschaftsberichterstattung festgesetzt hat, sondern auch das Verfassen von Büchern. Von Philip Roth bis Jonathan Franzen, die Autoren bekommen demnach Konkurrenz.
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Was fangen wir nur mit der Hyperintelligenz an?
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Noch ein Blick in die Zukunft gefällig? 2025 werden die Programme die Komplexität des Gehirns einer Katze erreichen, prognostizierte Bauckhage, 2029 das Gehirn eines Menschen. Das sei seine eigene Einschätzung, aber Kurzweil komme für das Jahr 2030 zu einem ähnlichen Resultat.
Wird es zu einer Entwicklung übermenschlicher Intelligenz kommen? Aber ja. Das ist unausweichlich.
Wird es bald eine KI-Anwendung geben, die uns an Sprachspielen, Doppelbödigkeit und Ironie übertrifft? Aber ja, mutmaße ich. Das ist unausweichlich. Immerhin haben wir dann einen ordentlichen Gesprächspartner.
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