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Open Password – Freitag, den 1. April 2022

# 1049

Erdmute Lapp – Doktor Zivago – Boris Pasternak – Verfilmung – Regierung der Sowjetunion – Oktoberrevolution – Bürgerkriegsjahre – Lew Tolstoj – Fjodor Dostoevskij – Universität Hamburg – Indiana University – DAAD – Feltrinelli Editore – University of Michigan Press – Nokolai Gorbacev – Perestrojka – Verlag Eksmo – Sven Richard Berg – Exeter University Library – Universität Südural – Gasan Gusejnov – Hochschule für Wirtschaft Moskau – Embedded Librarian – Peredelkino – Peter Finn – Petra Couvée – The Zivago Affair: The Kremlin, the CIA, and the Battle over a Forbidden Book – Pantheon Book – Sergio D’Angelo – Radio Moskau – KPI – Giangiacomo Feltrinelli – Vorwurf des Verrats – Boris Pilnjak – Mahagoni – Archipel Gulag – Bayerische Kunstakademie – Universität Moskau – Universität Marburg – Großer Terrror

Hommage an das Buch (IX)

Eine Initiative von Open Password
und dem Simon Verlag für Bibliothekswissen

Mit Herzblut, Leidenschaft und tiefen Kenntnissen über Bücher geschrieben, „die uns bewegten“


Nun, da das Buch durch geringe Aufmerksamkeitsspannen, mangelnde Leselust und elektronische Formate bedroht ist, wird es Zeit für eine Hommage an das Buch. Open Password und der Simon Verlag für Bibliothekswissen haben sich zu dem Projekt, „Bücher, die uns bewegten“ zusammengetan und 41 Autoren gewonnen, die mit Herzblut, Leidenschaft und tiefen Kenntnissen berichten, wie sie von einem bestimmten Buch geprägt wurden.

In unserer neunten Hommage an das Buch geht Erdmute Lapp dem Leben und dem Hauptwerk von Boris Pasternak nach und schildert, wie sich ein Stück bleibende Weltliteratur gegen alle Bestrebungen des KGB und der sowjetischen Regierung die Weltöffentlichkeit gewann.

Erdmute Lapp liest das Buch ihres Lebens:

„Doktor Zivago“ von Boris Pasternak

Auf den Spuren eines russischen Dichters

The Zivago Affair: The Kremlin, the CIA
and the Battle over a Forbidden Book

Erda Lapp im Cafe Cereteli

Als ich zwölf Jahre alt war, wurde in der deutschen Kleinstadt, in der meine Familie und ich damals lebten, der Film Doktor Zivago gezeigt, und mein Vater ist nur mit mir ins Kino gefahren. „Die Kleine kann aber nicht mit, sie ist sicher noch nicht 16“, sagte die Kassiererin, als mein Vater zwei Kinokarten verlangte. „Sie ist mit mir“, antwortete mein Vater und zog mich in den Kinosaal.

Was ich dort sah, hat mich nachhaltig beeindruckt, obwohl ich natürlich kaum etwas verstanden habe. Ich verstand nicht, dass erst Weltkrieg und dann Bürgerkrieg herrschte; ich verstand nicht, warum Jurij Zivago mit Lara zusammenlebte, obwohl er mit Tonja verheiratet war; warum er zusammen mit den Partisanen auf die jungen Leute mit den sympathischen Gesichtern erst schießt und dann den Verwundeten verbindet; warum Jurij Zivago nach der Flucht aus der Gefangenschaft bei den Partisanen nach Jurjatin zu Lara zurückkehrte und nicht nach Varykino zu Tonja, mit der er zwei Kinder hatte. Und warum musste Jurij Zivago so früh sterben? Die Landschaft, in der fast immer Winter war, fand ich faszinierend. (Die Filmaufnahmen sind in Finnland und in Kanada entstanden.) Das Narzissenfeld in Varykino sehe ich noch vor meinem inneren Auge. Aber die Familie Zivago ist doch vor dem Hunger in Moskau geflohen, warum bauen sie dann Narzissen an? Sie sind wunderschön, aber Gemüse wäre doch essbar.

Mein Vater erklärte mir, dass der Roman Doktor Zivago nur im Westen erschienen ist, der Sowjetregierung gefällt die Darstellung der Revolution und der Bürgerkriegsjahre nicht; der Autor Boris Pasternak hat für dieses Buch und für seine Gedichte (die wir leider nur in Übersetzung lesen können, von der wir nicht wissen, wie gut sie das Original wiedergibt) den Nobelpreis bekommen, durfte ihn aber nicht annehmen. Er ist 1960 gestorben und gehört zu den großen russischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts.

Im Bücherregal der Eltern und auch in der Stadtbücherei befanden sich etliche Werke russischer Schriftsteller in deutscher Übersetzung, aber Boris Pasternaks Doktor Zivago war nicht dabei. So las ich zunächst Tolstoj und Dostoevskij.

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Auf den Spuren eines russischen Dichters.
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Es dauerte mehrere Jahre bis ich Doktor Zivago in deutscher Übersetzung las, und ich war fasziniert von der Komplexität des Romans. (Ich hatte inzwischen angefangen, Russisch in der Schule zu lernen, aber um Doktor Zivago zu lesen, muss man schon fortgeschritten sein.) Natürlich habe ich Jurij Zivago bewundert, aber ich erinnere mich deutlich, dass ich gedacht habe: Mein Vater hätte wie Tonjas Vater dafür gesorgt, dass ich und meine Kinder nach Paris auswandern, wenn ich mit einem so unzuverlässigen Mann wie Jurij Zivago verheiratet wäre.

Nach meinem Studium der Slavistik, Anglistik und Amerikanistik an der Universität Hamburg und an der Indiana University, Bloomington habe ich als Stipendiatin des DAAD im ersten Jahr an meiner Dissertation in Moskau gearbeitet. Mein russischer Freund und ich sind mit der Elektricka nach Peredelkino gefahren und ich habe die Datscha Pasternaks gesehen, in der Doktor Zivago entstanden ist. Damals war die Datscha noch kein Literaturmuseum und man konnte das Haus nur von außen anschauen. Nach unserer Rückkehr nach Moskau von dem Ausflug hat mein Freund mir am Kievskij vokzal einen großen Strauß Narzissen bei einer Straßenhändlerin gekauft.

Unter den Studenten, mit denen ich in der Moskauer Zeit zusammen war, kursierte ein Exemplar des Doktor Zivago, alle haben es nachts verschlungen. Als ich wieder in Deutschland war, habe ich herausgefunden, dass der italienische Verlag Feltrinelli Editore und University of Michigan Press russischsprachige Ausgaben herausgegeben haben. Ich habe den Roman auf Russisch gelesen, und jetzt machte alles Sinn. Ich hatte die sowjetische Kultur gut genug kennengelernt, um zu verstehen, dass Jurij Zivago nach sowjetischer Meinung die falsche Sicht auf die Revolution und die Bürgerkriegsereignisse hat, dass er jenseits aller Ideologie steht und ihm die Kunst wichtiger ist als die Revolution. Ich verstand die Sorglosigkeit und Freiheit, die für ihn charakteristisch sind und dass Lara sie vermutlich auch verstanden und akzeptiert hat. Von Tonja wissen wir es nicht. Sie hat den Eindruck, dass sie ihn liebt und er sie nicht. Aber er hat sie geliebt, nur anders als sie ihn. Ich verstand jetzt die Balalajka am Anfang des Films als Symbol für Kunst und die Narzissen als Symbol für Schönheit mitten im Chaos des Bürgerkriegs.

1987, nach dem Beginn von Gorbacevs Perestrojka erschien der Roman erstmals in russischer Sprache in der Sowjetunion, seitdem immer wieder in Russland. Michail Gorbacev hat ebenfalls in Moskau studiert und wusste, dass viele Intellektuelle gewonnen werden können, wenn sie das lesen können, was sie lesen wollen. Für die Universitätsbibliothek Bochum habe ich zusätzlich zu der Feltrinelli-Ausgabe eine russischsprachige Ausgabe des Verlags Eksmo von 2013 gekauft. Das Umschlagbild zeigt ein Gemälde des schwedischen Künstlers Sven Richard Berg, das 1899-1900 entstanden ist und den Titel Nordic Summer Evening trägt. Ein Mann und eine junge Frau im weißen Kleid stehen am Fenster eines Gutshauses und schauen auf den Garten. Es entsteht der Eindruck, dass Doktor Zivago eine romantische Geschichte um die Zeit der Jahrhundertwende ist. Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein.

In den Jahren 2002-2004 haben die Universitätsbibliothek Bochum und die Exeter University Library als westeuropäische Partner ein EU-Projekt (Tempus JEP) mit der Bibliothek der Universität Südural in Celjabinsk durchgeführt. Ich habe den Kollegen aus Celjabinsk von Doktor Zivago erzählt und sie gefragt, welche Stadt das Vorbild für Jurjatin war. Später habe ich erfahren, dass es Perm im Uralvorland ist und dass ein ländliches Anwesen in der Nähe der Stadt als Vorbild für Varykino viele Touristen anzieht. Die russischen Kollegen haben sich bei ihrem Besuch in Bochum die Feltrinelli-Ausgabe der Universitätsbibliothek Bochum ausgeliehen und nachts gelesen.

Im Juni 2019 hatte ich die Möglichkeit, an einer Sommerschule in Peredelkino und Moskau teilzunehmen, die Bochumer Slavisten und Studenten mit Gasan Gusejnov von der Hochschule für Wirtschaft in Moskau und seinen Studenten organisiert haben. Professor Gusejnov hatte im Sommer 2017 und 2018 in Bochum unterrichtet und vorgeschlagen, dass ich an der Sommerschule 2019 als Bibliothekarin teilnehme. Ich hatte bis dahin immer meine amerikanischen Kolleginnen beneidet, weil sie Professoren und Studenten ihrer Universität als Embedded Librarian auf Reisen begleiten dürfen, und jetzt ist es mir auch passiert. Wir haben im Dom tvorcestva pisatelej in Peredelkino übernachtet, der Unterricht fand auch dort statt. Natürlich haben wir die Datscha Boris Pasternaks besucht. Ich hatte den Vortrag zum Thema Boris Pasternak und der Nobelpreis von 1958 vorbereitet.

Dr. Zivago, russische Ausgabe

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The Zivago Affair: The Kremlin, the CIA, and the Battle over a Forbidden Book.
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Meinem Text liegen die detallierten Forschungen von Peter Finn und Petra Couvée zugrunde (Peter Finn ist ein amerikanischer Journalist für die Washington Post und Petra Couvée eine holländische Journalistin und Universitätsdozentin), die 2014 unter dem Titel „The Zivago Affair: The Kremlin, the CIA, and the Battle over a Forbidden Book“ in New York bei Pantheon Book erschienen ist.

Wie die beiden Journalisten beginne auch ich am 20. Mai 1956. An diesem Tag nahm der Italiener Sergio D‘Angelo die Elektricka vom Kievskij vokzal nach Peredelkino, um Pasternak zu besuchen. D’Angelo arbeitete damals als Praktikant für Radio Moskau. Vor seinem Moskauaufenthalt hatte er die Buchhandlung der Italienischen Kommunistischen Partei in Rom geleitet, und sein Aufenthalt in Moskau wurde von der Italienischen Kommunistischen Partei finanziert.

Der italienische Verleger Giangiacomo Feltrinelli aus Milano hatte D’Angelo gebeten, nach interessanter sowjetischer Literatur Ausschau zu halten, die Feltrinelli übersetzen lassen und veröffentlichen wollte. Im April 1956 hatte D‘Angelo eine kurze Kulturnotiz gelesen, in der die bevorstehende Veröffentlichung des ersten Romans von dem russischen Dichter Boris Pasternak erwähnt wurde. Der Roman hieß „Doktor Zivago“. D’Angelo war sich sicher, gefunden zu haben, was Feltrinelli suchte. D‘Angelo schlug Pasternak vor, ihm das Manuskript zu überlassen, der Text würde in Italien übersetzt werden und Feltrinelli Editore würde mit der Veröffentlichung warten, bis der Roman in der Sowjetunion erschienen war. Er fügte hinzu, Pasternak könne Feltrinelli vertrauen, der sei auch ein Kommunist.

D’Angelo hatte keine Ahnung von dem Risiko, das Pasternak eingehen würde, wenn er sein Manuskript einem Ausländer gab. Aber Pasternak wusste nur zu gut, dass die nicht sanktionierte Veröffentlichung eines Werkes im Westen, das nicht in der Sowjetunion erschienen war, den Vorwurf des Verrats einbringen und den Autor und seine Familie in Gefahr bringen konnte. Boris Pilnjak, Pasternaks ehemaliger Nachbar in Peredelkino (das Seitentor zwischen den Gärten der beiden Datschen stand immer offen) wurde 1938 erschossen, nachdem sein kurzer Roman „Mahagoni“ in Berlin erschienen war; Pilnjaks Frau verbrachte 19 Jahre im Gulag. Selbst nach Stalins Tod konnte kein Autor eine Veröffentlichung im Westen in Betracht ziehen, ohne an Pilnjaks Schicksal zu denken.

 

Aber Pasternaks Antwort lautete: Ich gebe Ihnen das Manuskript unter der Bedingung, dass Fetrinelli Kopien des Textes auch an Verleger in Frankreich und England schickt. Dann brachte er ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket, es enthielt 433 eng mit Schreibmaschine beschriebene Blätter, der Text war in 5 Teile unterteilt. Jeder Teil war in Pappe eingebunden und mit einer Schnur zusammengehalten, die durch Löcher im Papier gezogen und dann verknotet war. Der erste Abschnitt war mit dem Datum von 1948 versehen, und der Text war voller handschriftlicher Korrekturen. (Die Autoren erwähnen, dass Feltrinellis Sohn sie das Originalmanuskript anschauen ließ, ein aufregender Moment für die Journalisten.) Pasternak gab D’Angelo das Manuskript und sagte: „Dies ist Doktor Zivago, möge er seine Weltreise beginnen.“ Und zum Abschied sagte er D’Angelo: „Hiermit sind Sie zu meiner Hinrichtung eingeladen.“

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Überleben im Großen Terror
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Im Folgenden möchte ich darstellen, warum Pasternak dieses Risiko auf sich nahm und welches weitere Schicksal das Manuskript hatte.

Boris Pasternak wurde 1890 in Moskau in eine jüdische Künstlerfamilie geboren. Sein Vater war ein bekannter impressionistischer Maler und Professor an der Moskauer Akademie für Malerei, Architektur und Skulptur. (Ich hatte das Glück, direkt vor der Sommerschule zwei Gemälde von Leonid Pasternak im Kunstmuseum Tel Aviv sehen zu können.) Leonid Pasternak war 1881 aus Odessa nach Moskau gekommen, um Medizin zu studieren, im Herbst 1882 hatte er sich in die Bayerische Kunstakademie in München eingeschrieben. Boris Pasternaks Mutter, geborene Rosalia Kaufman, war ein musikalisches Wunderkind, sie studierte in Wien und wurde zur Musikprofessorin am Konservatorium von Odessa ernannt, als sie noch nicht zwanzig Jahre alt war.

Boris Pasternak studierte Recht und Philosophie an der Moskauer Universität und Philosophie in Marburg. 1922 heiratete er seine erste Frau Evgenija Lourié. Im Sommer 1939 fühlte er sich immer mehr zu Zinaida Neijgaus / Neuhaus hingezogen, der Frau seines besten Freundes Genrich Nejgaus, und er lebte mit ihr. 1920 zogen Pasternaks Eltern und Schwestern nach Berlin und ließen sich vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs in England nieder. Pasternak entschied, dass er in Russland bleiben müsse.

Sestra moja – zizn‘ / Meine Schwester – das Leben wurde sein erster Gedichtband mit ausgezeichneter Resonanz. Boris Pasternak zeichnete sich auch als Übersetzer aus; seine Übersetzungen von Shakespeare und Goethes Faust erlangten große Bedeutung.

Wie durch ein Wunder überlebte er den großen Terror. Er sagte dazu: In diesen schrecklichen Jahren konnte jeder verhaftet werden. Wir wurden wie ein Kartenspiel durcheinandergemischt. Es gab keine offensichtliche Logik für das Töten.

Lesen Sie in der abschließenden Folge: Ein Buch setzt sich weltweit gegen den KGB und die Regierung der Sowjetunion durch.

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