Open Password – Freitag,

  1. Juli 2018


# 410

Open Password – Sommerprogramm – Michael Klems – Charles Dickens – Richard David Lankes – Helga Schwarz – Zukunft der Bibliotheken – Rafael Ball – Hans-Christoph Hobohm – Erda Lapp – Willi Bredemeier – Simon Verlag für Bibliothekswissen – Spielregeln für eine Debatte – Rezensionen – Community – Funktionen der Bibliotheken – Partizipation – Joyce Valencia – Enthusiasmus – Optimismus – Predatory Journals – AWMF – Open Access – Fake Science – Rolf Kreienberg – Peer Review – Verlage – Hermann-Lingen – Weiße Liste – Evidenzbasierte Medizin – Gesundheitsbildung

Open Passwords Sommerprogramm(2)

Lieber Leser von Open Password,
it´s summer time.

Nordsee, Ostsee, Schwarzwald, Münsterland, Österreich, Italien, Kroatien, Spanien, Dubai, Karibik, Hawai. Zurzeit sind unsere Leser scheint´s überallhin ausgeflogen. It´s summer time. Das hat auch die Redaktion gemerkt, so dass sich Michael Klems auf Reisen begeben hat und die verbliebene Stallwache, soeben von einem Urlaub in der Toskana zurückgekehrt, einen beachtlichen Teil seiner Zeit dem Garten, seiner Frau und seinen Enkelkindern widmet (sofern er sich nicht gerade davongestohlen hat und an einem Buche schreibt).

Also starten wir für etwa drei Wochen unser Sommerprogramm. Wir kehren noch einmal zu unseren Publikationen des Jahres zurück und lassen sie uns in mehreren Portionen munden. Auch wenn wir damit nicht gleich Charles Dickens nachahmen, der den Fortsetzungsroman erfand und damit seine Auflagen steigerte, unsere Autoren, Richard David Lankes und Helga Schwarz, haben unsere entspannte Aufmerksamkeit verdient (zumal wir uns bislang auf Fremdrezensionen stützten und unsere eigenen Bewertungen zurückstellten).

„Sommerprogramm“ heißt allerdings nicht, dass wir auf eine aktuelle Berichterstattung verzichten. Und wenn es irgendwo in den nächsten drei Wochen brennen sollte, reiße ich mich vorübergehend sogar los, um Ihren Wissensdurst zu löschen. Aber sagen Sie das bloß nicht meinen Enkeln.

Mögen Sie immer ein kaltes Getränk in Ihrer Reichweite haben und eine gute Gesellschaft in Ihrer Nähe!

Herzliche Grüße sendet
Willi Bredemeier

„Erwarten Sie mehr“
von Richard David Lankes

Ein alternativer Ansatz
für die „Zukunft der Bibliotheken“

Die Bibliothek als verlängerter Arm

ihrer Community

Von Willi Bredemeier

Open Passwords Buch des Jahres:
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Richard David Lankes, Erwarten Sie mehr – Verlangen Sie bessere Bibliotheken für eine komplexer gewordene Welt – Mit einem Vorwort von Hans-Christoph Hobohm – Aus dem Amerikanischen von Erda Lapp und Willi Bredemeier (Originaltitel: Expect More) – Simon Verlag für Bibliothekswissen 2017

Zweiter Teil

Die Debatte um die „Zukunft der Bibliotheken“ und um den Bibliotheksdirektor Rafael Ball Anfang 2016 führte nicht wirklich weiter, da die Differenzen eher eine Angelegenheit der Wortwahl und des persönlichen Stils waren. Wer die Bibliotheken in der öffentlichen Diskussion halten will, muss die Spielregeln der Medien bis zu einem gewissen Grade akzeptieren und seine persönliche Balance zwischen Seriosität und Entgegenkommen gegenüber der Öffentlichkeit finden.

Das Buch „Erwarten Sie mehr“ von Richard David Lankes stellt eine gute Möglichkeit dar, die Debatte um die „Zukunft der Bibliotheken“ auf der Basis vielversprechender Spielregeln fortzusetzen. An solchen wurden im ersten Teil dieses Beitrages erörtert:

  • Binnendiskussion und Außenkommunikation aufeinander beziehen und weitgehende Orientierung der Bibliotheken an Kunden und Stakeholdern sicherstellen;
  • statt Problemaufrissen und abstrakten Erörterungen gleich in die „Therapie“ mit empirischen Beispielen einsteigen;
  • die intellektuellen Funktionen von Texten mit Optimismus und emotionalen Aufforderungen koppeln und damit verbunden die Ansicht aufgeben, dass Emotionalität immer auf Kosten der intellektuellen Qualität gilt;
  • in Rezensionen von den Bedürfnissen des Lesers und den Inhalten eines Beitrages ausgehen – den Autor selbst zu Wort kommen lassen und gegebenfalls Fußnotenapparate abrüsten.

Aber natürlich kommt es auf die Inhalte von Lankes ebenso sehr wie auf die Spielregeln an.

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Die neuen Inhalte (1) :

Eine Grundthese so einfach formulieren, dass sie wie selbstverständlich klingt und danach so verfahren, dass sich ihr revolutionäres Potenzial in den Anwendungen erschließt.
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(1) Bibliotheken haben ihrer Community zu dienen. Probleme und Zusammenhänge mögen komplex sein. Viele gute Autoren zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie es dem Leser möglichst einfach machen und ihre Thesen so formulieren, dass sie fast wie eine Selbstverständlichkeit klingen, sich ihr womöglich revolutionäres Potenzial aber danach in den Anwendungen erschließt. Das können diese Autoren vor allem, weil sie ihr Thema im Griff haben.

Wollten wir Lankes auf eine These reduzieren, so lautete diese: Bibliotheken haben ihrer Community zu dienen. Das ist selbstverständlich? Das ist es nicht, wenn sich die Bibliothekspraxis vorwiegend am Bücherbestand oder an der Optimierung interner Standards und die Bibliothekspolitik vor allem an der Architektur (Erstellung und Pflege eines großartigen Bibliotheksgebäudes) orientieren sollte. Ebenso falsch wäre es, wenn sich Bibliotheken nicht als Diener, sondern als Gouvernante und Zensor gerierten und ihren Nutzern bestimmte Texte zur Lektüre als besonders wertvoll vorgeben möchten.

Lankes meint, dass viele Bibliotheken dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit nicht gerecht geworden sind:

„Viel zu lange haben sich zu viele Bibliothekare in ihre Bibliotheken eingesperrt und versucht, ihre eigene Kultur zu schaffen, anstatt sich an die ihrer Community anzupassen. Das mag in Begriffen wie einen Himmel für Leser schaffen oder Förderung der Atmosphäre für Wissenschaftler versteckt worden sein. Aber gehen Sie dem nicht auf den Leim, diese Bibliothekare bauen Grenzen auf und überbrücken sie nicht.“

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Die „neuen Inhalte“ (2):

Ein umfassender partizipatorischer Ansatz.
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(2) „Sie verdienen eine großartige Bibliothek. Machen Sie sich auf und besorgen sich eine!“ Fügen wir der bisherigen eine zweite ergänzende These hinzu: Damit Bibliotheken ihrer Community bestmöglich dienen können, haben die Stakeholder und die Community einer Bibliothek hohe und höhere Erwartungen, Wünsche und Forderungen an das Bibliothekspersonal als bislang zu richten (oder wie der Titel des Buches sagt: „Erwarten Sie mehr!“).

Damit ist ein umfassender partizipatorischer Ansatz formuliert, der in der Debatte um die „Zukunft der Bibliotheken“ und in der Praxis der Bibliothekswelt keineswegs selbstverständlich ist. Er liest sich bei Lankes so:

„Der Unterschied zwischen einer guten und einer großartigen Bibliothek ist am Ende dieser: Eine Bibliothek, die danach trachtet, ihrer Community zu dienen, ist gut, aber eine Bibliothek, die daran arbeitet, ihre Community zu inspirieren und jeden Tag besser zu machen, ist großartig. Sie mögen eine gute Bibliothek lieben, aber Sie brauchen eine großartige Bibliothek.

Wenn Sie ihre Erwartungen an eine Bibliothek darauf beschränken, dass sie ein Lieferservice für Ihre Informationsversorgung ist, dann befindet sie sich im direkten Wettbewerb mit Amazon, Google und ähnlichen Anbietern. Aber wenn Sie mehr erwarten

– wenn Sie erwarten, dass Ihre Bibliothek Ihre Interessen in einer komplexen Wissensinfrastruktur vertritt

– wenn Sie erwarten, dass Ihre Bibliothek ein Zentrum des Lernens und der Innovation ist

– wenn Sie erwarten, dass Ihre Bibliothek Ihnen helfen soll, Wissen zu kreieren statt Ihnen lediglich einen einfachen Zugang zu den Arbeiten anderer verfügbar zu machen

– wenn Sie erwarten, dass sich Ihre Bibliothekare persönlich für Ihren Erfolg einsetzen

– wenn Sie erwarten, dass Ihre Bibliothek ein gemeinsamer Platz sein soll, der die Community zusammenschweißt

– wenn Sie erwarten, dass Ihre Bibliothek Sie inspiriert, Sie herausfordert, Sie provoziert, aber Sie immer respektiert, unabhängig davon wie es um Ihre Zahlungsfähigkeit steht,

dann erwarten Sie eine großartige Bibliothek. Sie verdienen eine großartige Bibliothek. Machen Sie sich auf und besorgen sich eine!“

Entsprechend liegt der „wahre Bestand“ einer Bibliothek nicht in seinen Medien und sonstigen Sachangeboten, sondern in seinen partizipatorischen Potenzialen, also

„in den Großeltern, Lehrern und Schülern. Der Bestand liegt in den Kindern, deren Phantasie durch die Realitäten des Alltags am Arbeitsplatz noch nicht belastet sind. Er liegt auch in den Senioren. Im letzten Jahrhundert ist die Lebenserwartung eines Amerikaners von 47 Jahren auf 77 Jahre gestiegen. Stellen Sie sich dieses weite Meer aus Erfahrungen und ungezügelten Talenten vor, dem nicht an Profit, sondern an Vermächtnis gelegen ist.

Da bekommen wir den mitreißenden Optimismus von Lankes mitgeliefert und die weitgehende Verschränkung bibliothekarischer Binnen- und Außenkommunikation sowie mehrere Ideen für den Aufbau einer Community unter weitgehender Partizpation verschiedener Nutzergruppen dazu.

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Die „neuen Inhalte“ (3)

Die Bibliothek als abhängige Variable ihrer Community.
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(3) Die Wünsche und Träume der Gemeinschaft erfüllen. Eine „Bibliothek mit Zukunft“ sollte ein Verständnis von Community und von ihrer Community haben. Lankes definiert die „Community“ sehr allgemein und ebnet dabei etwaige Barrieren zwischen Stadtbibliotheken, wissenschaftlichen Bibliotheken und Unternehmensbibliotheken ein, die einem etwaigen wechselseitigen Transfer von Erfahrungen entgegenstehen könnten. Zusätzlich sieht er sogar weitgehende Ähnlichkeiten zwischen den Bibliotheken einerseits und den Verlegern und Journalisten auf der anderen Seite:

„Eine Community ist eine Gruppe von Menschen, die sich zusammentun, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Communities bilden sich, wo Menschen zusammenleben, wo sie studieren und arbeiten.“

Was wollen Communities? Was sollten Bibliotheken unbedingt von ihnen wissen?

„Communities haben Träume. Sie sehnen sich danach, weltweit führende wissenschaftliche Einrichtungen zu sein oder Zentren für wirtschaftliche Entwicklung zu werden. Gemeinschaften träumen davon, komfortabel zu leben oder Marktführer zu sein. Sicherlich sind ihre Träume weniger präzise gefasst als die Träume ihrer einzelnen Mitglieder, aber sie repräsentieren eine Art ganzheitlicher Wünsche, die die Politik lenkt, Ressourcen zuteilt und der Außenwelt mitteilt, wie man werden will.“

Und:

„Communities haben Wünsche und Träume. Sie sollten von der Bibliothek erwarten, dass sie dabei hilft, diese Träume zu entwickeln und zu realisieren. Communities haben auch Probleme und sehen sich vor Herausforderungen gestellt, und sie sollten von der Bibliothek … Hilfe zu deren Lösung erwarten.“

Diese Erörterungen zeigen, wie sehr die Bibliothekare nach den Vorstellungen von Lankes eine abhängige Variable ihrer Gemeinschaft sind und wie groß, ja scheinbar unendlich die Vielfalt der Möglichkeiten ist, die eine Bibliothek im Dienst an ihrer Gemeinschaft realisieren kann.

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Die schier unendliche Vielfalt an Möglichkeiten, sich eine eigene Community zu schaffen.
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(4) Was Bibliotheken alles sein können. Demnach kann Lankes statt einer erschöpfenden Checkliste nur Beispiele aus der Geschichte oder aus seinen eigenen Erfahrungen nennen, welche Aufgaben Bibliotheken übernehmen können. Als da sind:

  • Kooperationsgemeinschaften zwischen Bibliotheken, die zum Beispiel als Einkäufergemeinschaften fungieren und somit auch Bibliotheken mit einem kleineren Budget wertvolle Bestände ermöglichen;
  • allgemein zugängliche Räume für eine Community zur Verfügung zu stellen und so eine Community mit lebendig halten;
  • als wirtschaftlicher Stimulus fungieren, beispielsweise indem Arbeitslose qualifiziert, Existenzgründer beraten, Gründerzentren eingerichtet oder die regionale Business Community vernetzt werden, oder allgemeiner formuliert: einen Beitrag zu einer ganzheitlichen regionalen Entwicklung leisten;
  • periphere Regionen kulturell und wirtschaftlich an die Metropolen heranführen;
  • den Bürgern auch außerhalb von Arbeitszusammenhängen eine wertvolle Hilfe sein, beispielsweise für die neuen Medien von dem Schließen von Datensicherheitslücken bis zur Abgabe elektronischer Steuererklärungen qualifizieren, dies ein Aufgabenbereich, der immer wichtiger wird, da „die Behörden auf allen Ebenen nach einer Technologie (suchen), die ihre persönlichen Kontakte mit der Öffentlichkeit verringern“;
  • benachteiligten Gruppen von Semi-Alphabeten bis Obdachlosen helfen und das Ausmaß der digitalen Spaltung verringern;
  • als Bewahrer des kulturellen Erbes, auch der heutigen Alltagskultur, fungieren und gegebenenfalls die Dokumentation dieser Alltagskultur mit organisieren;
  • die Nutzer ermutigen, informierte und aktive Bürger zu werden und zur demokratischen Teilhabe zu befähigen;
  • ein Zentrum des Lernens, des Wissenserwerbs, der intellektuellen Anregung, der Kreativität und der Innovation sein;
  • letztlich sogar: als Lückenbüßer für das regionale Umfeld agieren und alle wichtigen Aufgaben für eine Community übernehmen, die keine andere Einrichtung wahrnehmen kann oder will.

Lankes stellt viele Beispiele für großartige Bibliotheken und auch einige Beispiele für weniger großartige Bibliotheken dar. Beschränken wir uns hier auf das Beispiel von Joyce Valenza, die Bibliothekarin der Highschool in der Gemeinde Springfield am Stadtrand von Philadelphia, weil sie die allgemeineren Beispiele von Lankes auf die Ebene täglich anfallender Anforderungen heruntertransformiert. Valenza formulierte ein Manifest, was eine Schulbibliothekarin unternehmen sollte, um das Lesen zu fördern:

  • Sie prüft neue Wege, um Lesen zu fördern. Sie führt Lernende zu Medien hin / versorgt sie mit Hörbüchern zum Herunterladen, Playaway-Geräten, Kindle-Lesegeräten, iPads, Nook-Lesegeräten.
  • Sie tauscht E-Book-Apps mit Schülern für ihre iPhones, DROID Smartphones, iPads und andere mobile Endgeräte aus (siehe die Schulausgabe der App AccessMyLibrary aus dem Verlag Gale).
  • Sie vermarktet, und die Schüler tauschen aus: Bücher, die in sozialen Netzwerken wie Shelfari, Good Reads, LibraryThing erscheinen.
  • Ihre Schüler bloggen, twittern oder tauschen sich in sozialen Netzwerken über die Bücher aus, die sie lesen.
  • Ihr Bildschirmschoner macht Werbung für gute Lektüre, nicht für Dell, Apple oder HP.
  • Sie verlinkt kostenlos zugängliche E-Book-Bestände mit Werkzeugen wie Googe Books und der Internationalen Kinderbuchbibliothek (siehe E-Book Pathfinder).
  • Sie bespricht und bewirbt Bücher in ihrem eigenen Blog-Eintrag, Wikis und anderen Webseiten (siehe Reading 2.0 und das Book Leads Wiki, um Ideen zu sammeln, wie man Bücher bewerben kann).
  • Sie bettet Hinweise auf Bücher in ihre Webseite ein, um Lesen zu fördern und Lernen zu unterstützen.
  • Sie arbeitet mit Lernenden zusammen, um digitale Lesezeichen oder Werbeclips für Bücher zu erstellen und auszutauschen.“

Wohl lassen sich die von Lankes genannten Beispiele nicht 1:1 auf die deutschsprachigen Länder übertragen. So mögen manche Aufgaben, die amerikanische Bibliotheken übernommen haben, bei uns von der kommunalen Wirtschaftsförderung oder vom Sozialamt wahrgenommen werden. Was aber unbedingt transferfähig ist, ist Lankes allgemeiner Ansatz, dass sich also jede Bibliothek ihre eigene Community suchen und aufbauen muss. Und die Übernahme des mitreißenden Optimismus und Enthusiasmus von Lankes anstelle des Pflegens von Untergangsszenarien würde nützen, nicht schaden.

AWMF

Gegen „Raubverlage“, „Pseudokongresse“
und Pseudoverlage

 

„Open Access“ trägt zur Verbreitung
von „Fake Science“ bei

Wertlose Forschung und gefährliches Pseudowissen – dieser Markt breitet sich aus. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) sieht eine reale Bedrohung für die Durchdringung von Wissen aus der seriösen Wissenschaft in die Öffentlichkeit und eine Bedrohung für die Gesundheit von Patienten und Bürger. Die AWMF setzt auf Gegenmittel wie das Paradigma der evidenzbasierten Medizin, internationale Initiativen zur Förderung der Qualität medizinischer Forschung, auf die Leitlinien ihrer aktuell 178 Mitgliedsgesellschaften als qualitätsgesicherte Information und auf die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung. 

Die Diskussion um die Verbreitung von Pseudowissen in der medizinischen Wissenschaft und in der Öffentlichkeit hat eine neue Dimension erreicht.  Auslöser ist die Ausbreitung einer akademischen Scheinwelt – getrieben durch „Raubverlage“, „Pseudojournale“ und „Pseudokongresse“, die Wissenschaftlichkeit vorgeben, jedoch die Grundprinzipien der Wissenschaftlichkeit zugunsten rein wirtschaftlicher Interessen missachten.  „Die medizinische Wissenschaft muss sich verstärkt für die Prävention, Identifikation und Kennzeichnung wertloser, eindeutig interessengeleiteter oder pseudowissenschaftlicher Forschung einsetzen, um nachteilige Folgen für die medizinische Versorgung und für individuelle Patienten zu verhindern“, fordert Professor Dr. med. Rolf Kreienberg, Präsident der AWMF. Zu den Instrumenten dagegen gehören die obligate Registrierung klinischer Studien, die Transparenz von Interessenkonflikten, Regeln für transparente Publikationsprozesse einschließlich eines definierten Begutachtungsver­fahrens („Peer Review“) und die kostenfreie Verfügbarkeit wissenschaftlich hochwertiger Publikationen („Open Access“).

Gerade die Open-Access-Bewegung hat in den letzten Jahren zu den gravierenden Fehlentwicklungen beigetragen: Im Open-Access-Modell entrichten die Autoren eine Gebühr für die Produktionskosten ihrer Publikationen, da die Verlage keine Einnahmen daraus zu erwarten haben. Das heißt aber auch, Verlage nehmen desto mehr Geld ein, je mehr Publikationen sie akzeptieren und je geringer sie die Kosten halten. Dies bietet den Geschäftsraum für pseudowissenschaftliche Verlage und Publikationsplattformen. Mit wohlklingenden Titeln täuschen diese Seriosität vor und werben in Massen-E-Mails mit dem Versprechen rascher und unkomplizierter Manuskriptbearbeitung um Wissenschaftler. Die Manuskripte werden dann ohne ausreichende Qualitätskontrolle gegen Zahlung einer durch die so erzielte Einsparung von Produktionskosten oft vergleichsweise niedrigen Gebühr veröffentlicht. Zur Fehlentwicklung tragen auch Fehlanreize der Forschungssteuerung bei, die vielfach zu einseitig quantitative Bewertungsmaßstäbe setzt (wie z. B. die reine Zahl anstelle der wissenschaftlichen Qualität von Publikationen oder die Summe verausgabter Drittmittel anstelle ihres sinnvollen Einsatzes), mahnt Professor Herrmann-Lingen. „Der Druck, vor allem viel zu publizieren, („Publish or Perish“) kann zu wissen­schaftlichem Fehlverhalten bis hin zur Publikation gefälschter Ergebnisse (‚Fake Science‘) verleiten.“

Die AWMF fordert die konsequente Prüfung der Einhaltung international konsentierter Gütekriterien medizinischer Forschung. Nur solche Publikationen sollten als Qualitätsnachweis anerkannt werden, die in Publikationsorganen erscheinen, die entweder in etablierten Verzeichnissen seriöser Fachzeitschriften gelistet oder von wissenschaftlichen Fachgesellschaften auf der Basis transparenter Kriterien als qualitätsgesicherte Publikationsorgane im jeweiligen Fachgebiet anerkannt sind. Die AWMF führt eine entsprechende Kriterienliste und eine „Weiße Liste“ der Zeitschriften ihrer Mitgliedsgesellschaften.

Darüber hinaus sollten Patienten und Bürger befähigt werden, Spreu und Weizen medizinischer Information zu unterscheiden. Dazu tragen Laienversionen hochwertiger Leitlinien der Fachgesellschaften in der AWMF bei. Ergänzend fordert die AWMF die systematische Verankerung von Kenntnissen der evidenzbasierten Medizin in der medizinischen Aus- und Weiterbildung sowie die Förderung von Gesundheitsbildung in der Bevölkerung – beginnend in der Schule.

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