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Open Password – Mittwoch, den 24. April 2019

# 550

 

Zukunft der Informationswissenschaft – Datenwissenschaft – Bernd Jörs – Informationskompetenz – Bibliotheken – Chat-Bots – Neurobiologie – Findability – IWP – ISI-Proceedings – DGI – DKFI – Wissensmanagement – Internetnutzung – Dilettantismus – Vorwissen – M. Spitzer – Transfer-Zentrum für Neurowissenschaften und Lernen – Search Literacy – Special Library Association – DGI – Anna Lamparter (heute: Knoll) – Google – Forschungsdatenmanagement 

 

Zukunft der Informationswissenschaft:
Hat die Informationswissenschaft eine Zukunft?

Kritik der In(formations)kompetenz

Vierter Teil

Von Bernd Jörs

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  1. Kritik der „In(formations)kompetenz“

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Es ist möglich, für die Erfüllung der “informierenden” Service- und Versorgungsaufgabe der Bibliotheken den Begriff der „Informationskompetenz“ in Anspruch zu nehmen (bis die Chat-Bots kommen). Weitet man dieses Konzept allerdings über den Bibliotheksbereich beinahe grenzenlos aus, so verwandelt sich die „Informationskompetenz“ schnell in eine inhaltlich entleerte Phrase oder dient zur Schmückung von Aktivitäten, mit denen die Informationswissenschaft wenig zu tun haben kann (beispielsweise wenn für Kurse zum Erwerb eines „Internetführerscheins“ geworben oder zum Erwerb von „Informationskompetenz“ im Vorschulalter eingeladen wird oder Informationskompetenz auf die Fähigkeit schrumpft, einen Social-Media-Account einzurichten). 

Spätestens die Ergebnisse der neurobiologischen Lern- und Kompetenzforschung belegen, dass die Vorstellungen einer omnipotenten „Informationskompetenz“ nicht zu halten sind. Gerade die Informationswissenschaft, die das Tätigkeitsfeld der Suche im Sinne von Findability für sich beansprucht, sollte sich nicht wundern, wenn man ihr einen solchen Anspruch nicht abnimmt und sie stattdessen für bedeutungslos hält. In der Tat besteht eine geringe „wissenschaftliche Sichtbarkeit der deutschsprachigen Informationswissenschaft (sichtbar für benachbarte Fächer, Gutachter, Förderorganisationen, Politiker, Universitätsgremien, Medien, …) – man kann auch sagen: die zu geringe Produktivität, Qualität und Internationalität“ der Informationswissenschaftler. Dies hat zu einem beschämend niedrigen Impact Factor von 0,4 für die informationswissenschaftlichen Zeitschriften geführt (IWP/DGI lediglich 0,2 – Proceedings von ISI-Tagungen sogar nur 0,1)[i] . Wenn sich die DGI als „Fachgesellschaft für Information Professionals“ das Label gibt: „Kompass ist Informationskompetenz“, so scheint hier „Datenkompetenz“ und „Informationskompetenz“ nicht mehr auseinandergehalten zu werden. Jedenfalls sieht ihr seinerzeitiger Präsident und Sprecher des DKFI nicht, dass die Datenkompetenz im Gegensatz zur Informationskompetenz „zu einer persönlichen, gesellschaftlichen und erwerbswirtschaftlichen Schlüssel- und Zukunftsqualifikation“ geworden ist [ii].

Ein ähnliches Schicksal wie der Begriff der „Informationskompetenz“ erleidet derzeit der Begriff des „Wissensmanagements“. „Leider sind Begriffe wie „Wissen“ und „Wissensmanagement“ in den letzten Jahren immer mehr zu reinen Modeworten bzw. Worthülsen verkommen“[iii]. Es überrascht nicht, dass das von der Informationswissenschaft beanspruchte „Wissensmanagement“ nahezu gescheitert und der „Begriff des Wissensmanagements verbrannt ist“ [iv].

Sollte die Informationswissenschaft ihren bisherigen Kompetenz-Anspruch fallen lassen? Aber ja:

–          Der Anspruch, die Informationswissenschaft besitze mit ihrem Retrieval-basierten Verständnis z.B. von Suche und Klassifikation (Ontologie, Thesaurus etc.) „Informationskompetenz“ per se, das heißt „Informationen jeglicher Art“ zu finden und in jedwedes „Wissen“ kontextgerecht zu transferieren, ist anmaßend und verringert die Akzeptanz dieser Disziplin.

–          Um Auswirkungen der Internetnutzung beurteilen zu können, eine Thematik, wie sie aktuell in den Debatten um die DSGVO oder die Abhängigkeit vom Smartphone aufgegriffen wird, sind einschlägige Kenntnisse aus der Medien- und Kommunikationswissenschaft, der Psychologie, der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaft, (Web-)Designwissenschaften und anderen Natur- und Geisteswissenschaften erforderlich. Diese müssen interdisziplinär koordiniert werden. Universal-Dilettanten-Know-how ist nicht gefragt.

–          Der elitäre Anspruch der „Informationskompetenz“ wird mit folgenden „Fähigkeiten des Könnens“ begründet: Informationen„suchen“, „ordnen“, „erzeugen“ , „strukturieren“, „aggregieren“, „aufbereiten“, „bewerten“, „beurteilen“, „interpretieren“, „akquirieren“, „organisieren“, „erschließen“, „auffindbar machen“, „speichern“, „klassifizieren“, „semantisch aufbereiten“, „gewinnen“, „extrahieren“, „gestalten“, „entwickeln“,  „mehrwertbringend in Forschung und Anwendung einsetzen“, „auf Validität und Relevanz überprüfen“, „auf Güte und Qualität prüfen“, „faktenbasiert identifizieren“, „beschreiben“, „in kundenorientierte Dienstleistungskonzepte integrieren“, „vermarkten“, „visualisieren“ und „ergebnisorientiert nutzen“. Dabei wird ignoriert, dass (Vor)Wissen die Voraussetzung für eine Ausübung dieser Fähigkeiten ist. Die Neurobiologie bezeichnet deshalb „Informationskompetenz“ (und auch „Medienkompetenz“) als „Unbegriffe“, die „inhaltsleer“ und schön „gehypet“ im Raum stehen. M. Spitzer, Neurowissenschaftler am Universitätsklinikum Ulm und Leiter des Transfer-Zentrums für Neurowissenschaften und Lernen, stellt fest: „Wer Infobroking will oder googelt, braucht Vorwissen, das es einem erlaubt, die Spreu vom Weizen zu trennen. Sie müssen erst ein gutes Wissen haben – und dann können Sie auch professionell suchen“[v]. Zudem „braucht man Vorwissen, das wie ein Filter wirkt, um Suchmaschinen überhaupt richtig benutzen zu können“[vi].

–          Es gibt die fatale Vorstellung, dass das „Wissen der Welt“ auf Datenbanken und Websites zur Verfügung stünde und es deshalb keines domänenspezifischen Wissens bedürfe, vielmehr die informations- und bibliothekswissenschaftliche „Kompetenz“ der Suche („Findability“) ausreichend sei. Die damit vorgenommene Separation von „Fachkompetenz“ und „Suchkompetenz“ wird von kognitiv-neurowissenschaftlicher Seite moniert: „Nun wird von Seiten der Verfechter dieses Ansatzes betont, dass die Schüler doch heute Medienkompetenz erlernen müssten, weil man ja alles googeln könne und man daher auch kaum noch etwas zu wissen braucht. Es wird gesagt, dass es in den Bildungseinrichtungen gar nicht mehr um das Aneignen eines Fundus an Wissen gehe, sondern nur noch um die Kompetenz des Umgangs mit Wissen, das man beispielsweise aus dem Internet herunterladen könne. Diese Ansicht erweist sich bei näherem Hinsehen als unhaltbar.“[vii].

Für die von der Informationswissenschaft beanspruchte „Search Literacy“ wird das noch drastischer formuliert. „Die Ansicht, … dass heute „Wissen“ nicht mehr notwendig sei und es nur noch auf „Kompetenz“ ankomme, … ist völliger Unsinn! Es ist gerade das Wissen über ein bestimmtes Sachgebiet, dass es mir erlaubt, die Informationen in diesem Sachgebiet zu bewerten und damit mit ihnen umzugehen. Damit ist Wissen eine Grundvoraussetzung für die Benutzung des Internets“ [viii]. Und für die Beurteilung der Relevanz von „Informationen“ bedarf es einschlägigen „Vorwissens“, das heißt eine „Fähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden“ [ix] .

–          Auch scheinen „Suchkompetenzen“ immer weniger gefragt. So ging die Zahl der Mitglieder in der US-amerikanischen Special Library Association (SLA) von 12.800 im Jahre 2003 auf 7.350 im Jahre 2014 zurück [x]. In der Deutschen Gesellschaft für Information und Wissen (DGI) hat der Rückgang des Mitgliederbestandes dramatische Ausmaße angenommen. In der Tat stellen Suchkompetenzen keine beruflich besonders verwertbaren Alleinstellungsmerkmale mehr da.  A. Lamparter (heute Knoll) wies 2015 auf den Trend zum „Do it yourself“ in der Suche hin. Berufe, die vormals diese Aufgabe erfüllt hätten, verschwänden. Im Gegensatz dazu gilt: „Wenn Google einem … innerhalb von 0,1 Sekunden 10.000 Hits auf den Bildschirm wirft, dann braucht man notwendigerweise, um etwas damit anfangen zu können: Vorwissen!“ [xi] .

Noch einmal M. Spitzer: „Weiß man gar nichts, so wird man auch nicht googeln (weil man auch keine Frage hat).“ Oder „Weiß man fast nichts, so nützt einem Google nichts, weil man bei den vielen Dingen, die Google auf dem Bildschirm anzeigt, nicht die Spreu vom Weizen trennen kann.“ Und weiter: „Je besser man sich in einem Fachgebiet auskennt, desto besser kann man in diesem Fachgebiet auch suchen und etwas finden. Sie müssen erst ein gutes Wissen haben – und dann können Sie auch googeln. Darüber hinaus gibt es keine allgemeine Kompetenz, die es ermöglicht, noch besser zu googeln. … Außerdem braucht man Vorwissen, das wie ein Filter wirkt, um Suchmaschinen überhaupt richtig benutzen zu können“ [xii].

–          Ähnlich kommt das „Forschungsdatenmanagement“ nicht ohne einschlägiges „Vorwissen“ aus. „Die Schwierigkeit bei der Beurteilung von Daten besteht darin, dass dies ein tiefgehendes Fachwissen voraussetzt“ [xiii]. Es ist nun mal „entscheidend zu wissen, wie datenintensive Forschung in der Lage ist, Daten von zufriedenstellender Qualität zu produzieren. Die Schwierigkeit bei der Beurteilung von Daten besteht darin, dass dies ein tiefgehendes Fachwissen voraussetzt. Neben entsprechendem Fachwissen müssen Forscher und Bibliothekare über die notwendige Datenkompetenz verfügen“[xiv].

 

[i] R. Kuhlen: Information – Informationswissenschaft, in: Hrsg.: R. Kuhlen, W. Semar, D. Strauch, Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation, 6.Aufl., Berlin, Boston, 2013, S. 1-24, S.10.

[ii] R. Karger; a.a.O., S.151-152.

[iii] A. Jonsson: „Beyond knowledge management – understanding how to share knowledge through logic and practice“; in: Knowledge Management Research & Practice, 2015.

[iv] S. Holtel, knowtech 2014: Ausgabe des „Global Knowledge Management Observatory©Survey“ Griffiths, David; Jenkins, Abi; Kingston-Griffiths, Zoe: „The 2015 Global Knowledge Management Observatory©Report“; März 2015 , Befragung: n = 729 Unternehmen, 56 Länder.

[v] http://hamburg-messe.de/uploads/media/4_Prof._Dr._ Dr._Manfred_Spitzer.pdf.

[vi] http://hamburg-messe.de/uploads/media/4_Prof._Dr._ Dr._Manfred_Spitzer.pdf.

[vii] http://hamburg-messe.de/uploads/media/4_Prof._Dr._ Dr._Manfred_Spitzer.pdf.

[viii] http://hamburg-messe.de/uploads/media/4_Prof._Dr._ Dr._Manfred_Spitzer.pdf.

[ix] http://www.geo.de/GEO/heftreihen/geo_magazin/lernen-mit-neuen-medien-digital-macht-schlau-79266.html.

[x] M. Greunberg: „Finding Value in Professional Associations: Management and Membership Issues“; in: Online Searcher, 2015, Vol. 39, No. 3, May/June 2015, 49-53.

[xi] http://hamburg-messe.de/uploads/media/4_Prof._Dr._ Dr._Manfred_Spitzer.pdf.

[xii] M. Spitzer: Digitale Demenz, Nervenheilkunde, 7-8 (2012), S.493-497, S. 496.

[xiii] S. Dale: „Content curation: The future of relevance“; in: Business Information Review, 2014, Vol. 31, No. 4, 199-205.

[xiv] J. Schamberger in Bezug auf Dale, Stephen: „Content curation: The future of relevance“; in: Business Information Review, 2014, Vol. 31, No. 4, 199-205.

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