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Open Password – Freitag, den 25. April 2022
# 1061
Hommage an das Buch – Open Password – Simon Verlag für Bibliothekswissen – Bücher, die uns bewegten – Elisabeth Simon – Dr. Faustus – Thomas Mann – Willi Bredemeier – Friedrich Schiller – Sven Hedin – Durch Asiens Wüsten – Lore-Romane – Leibücherei – Hans-Peter Müller – DDR-Bibliotheken – Rebecca Behnk – Nationalsozialistische Schriften – Flucht nach Westdeutschland – Heimatschriftsteller aus Ostpreußen und dem Baltikum – Ernst Wiechert – Das einfache Leben – Bibliothekarin – Lesefreude und Leselust – Thekenbücherei – Existenzialisten – Hoffmannsche pädagogische Grundsätze – Ernest Hemingway – Der alte Mann und das Meer – Carson McCullers – Die Grasharfe – Antiheimatroman – Der andere Heimatroman
Renate Zimmermann – Zwischen 14 und 18 – Sonja Walter – Ratgeber für Mädchen Selbstbestimmtes und achtsames Erwachsenenleben – Initiation – Henriette Sitterlee – Preis der Unsterblichkeit – Corrinne Jackson – Sich selbst akzeptieren – Für sich kämpfen – Andreas Stange – Im Zeichen des Ypsilon – Dimitri Clou – Reise einer verworfenen Möglichkeit – Überlegte Entscheidungen – Schreibwerkstatt Marzahn
Hommage an das Buch (XIII)
Eine Initiative von Open Password
und dem Simon Verlag für Bibliothekswissen
Mit Herzblut, Leidenschaft und tiefen Kenntnissen über Bücher geschrieben,
„die uns bewegten“
Nun, da das Buch durch geringe Aufmerksamkeitsspannen, mangelnde Leselust und elektronische Formate bedroht ist, wird es Zeit für eine Hommage an das Buch. Open Password und der Simon Verlag für Bibliothekswissen haben sich zu dem Projekt, „Bücher, die uns bewegten“ zusammengetan und 41 Autoren gewonnen, die mit Herzblut, Leidenschaft und tiefen Kenntnissen berichten, wie sie von einem bestimmten Buch geprägt wurden.
In der 13. Folge unserer Hommage an das Buch begibt sich Elisabeth Simon auf die Jagd nach jedwede Literatur. Diese machte sie, ohne dass sie es wusste, für Ihre Professionen als Bibliothekarin und Verlegerin fit. Renate Zimmermann entdeckt und betritt mit einem Ratgeber für junge Mädchen neue Welten und lässt sich auf ihrem Weg zu einer selbstbestimmten Frau begleiten. Henriette Sitterlee lernt, sich selbst zu akzeptieren und für sich zu kämpfen, und Andreas Stange erkennt, wie wichtig überlegte Entscheidungen sind.
Elisabeth Simon liest das Buch ihres Lebens.
„Dr. Faustus“ von Thomas Mann
Gibt es diese? Ob es solche gibt, weiß ich nicht. Man weiß nicht, wie das Leben und die Umwelt unser Leben beeinflusst haben. Aber Bücher haben in meinem Leben eine große Rolle gespielt und spielen diese heute noch. Daher hier ein kleiner Abriss:
In den ersten Lebensjahren gab es keine Bücher und mit dem Erwerb der Lesekunst wurde dieser Mangel zu einem immer stärker werdenden Motiv, Lesestoff zu erwerben – auf alle mögliche Art, durch Leihe oder auch Klauen. Nur Mord war mir nicht in den Sinn gekommen anders als Willi Bredemeier, der behauptete: Ich hätte für Lesestoff gemordet. Aber das lag nicht an einer höheren ethischen Einstellung, sondern an meinen mangelnden körperlichen Kräften.
Es gab zwei Bücher im verlassenen Haus des entfernten Verwandten, das wir nach der Flucht aus dem Osten (Polen) im Winter 1945 bewohnten, die Dramen von Friedrich Schiller und Durch Asiens Wüsten von Sven Hedin, ein umfangreicher Forschungsbericht mit unzähligen Daten und Zahlen. Dies war mein Lesestoff für die kommenden Jahre, ergänzt durch jedes Stück Text, wenn es nur die Umrisse einer Geschichte enthielt. Die Lore-Romane waren eine wunderbare Ergänzung, deren ich zwar nicht so abenteuerlich wie Willi Bredemeier habhaft werden konnte, aber es bedurfte einer ausgeklügelten Strategie, um sie zu bekommen.
Dann öffnete in der Nachbarschaft eine Leihbücherei ihre Regale. Wenn Hans-Peter Müller von dem Kampf der Bibliotheken gegen die Leihbüchereien im Osten Deutschlands berichtet, war es ein Glück, das dieser nicht Schöneiche bei Berlin erreicht hatte. Ich las alles, bis es nichts mehr gab, was ich nicht kannte: Literatur der Klassiker und der Nazis (den Titel begegnete ich erst Jahrzehnte wieder, als wir Behnk, Nationalsozialistische Schriften herausgaben), Krimis und Kitsch, es war mir völlig egal, wenn sie nur eine Geschichte erzählten.
Die Flucht nach Westdeutschland 1950 und die Ansiedlung in Hamburg ergab keine große Anreicherung des Lesestoffes. Aber man konnte jetzt wieder Bücher kaufen. Wenn dieses auch den Bücherschrank zu Hause wegen mangelnder Kaufkraft nicht füllte, so gab es doch Weihnachten und Geburtstag und Freunde und Nachbarn, die mir Bücher ausliehen. Aber es war keine moderne deutsche Literatur, geschweige Beispiele der vorher unbekannten großen Erzähler, es waren „Heimatschriftsteller“ aus Ostpreußen und dem Baltikum.
Dann hatte ich das große Glück, einem Lehrer zu begegnen, der in seiner großen Liebe zur Literatur merkte, wie sehr diese bei seinen Schülern unbekannt war und eine Arbeitsgemeinschaft für moderne Literatur gründete. Jeder Teilnehmer sollte ein Buch vorstellen. Meine Wahl fiel angesichts des mir zur Verfügung stehenden Bestandes auf Ernst Wiechert, „Das einfache Leben“. Der Lehrer war mit meiner Wahl bestimmt nicht einverstanden, aber seine einzige Reaktion auf meinen Vortrag war: Ich denke, Wiechert hätte sich gefreut, wenn er diesen Vortrag gehört hätte. Dann öffnete mir ein Mitschüler die Tore zu einer Hamburger Öffentlichen Bücherei und damit zu einem Leben, das meine Mutter zu den Ausruf bewog, Sie hört nie, wenn ich sie rufe.
So wurde ich Bibliothekarin. Zu meinem Glück wurden Lesefreude und Leselust noch als gute Voraussetzungen für diesen Beruf gewertet und sie waren auch notwendig, da ich im zerstörten Hamburg als Praktikantin in eine Thekenbücherei eingesetzt wurde und den Lesern die Bücher nach Angabe ihrer Wünsche aus dem Bestand herausholen musste. Und dieses bedeutete Arbeit für die empfehlende Bibliothekarin … und ich las und las, die amerikanischen Erzähler, die junge deutsche Literatur, die französischen Existenzialisten. Glücklicherweise hatten mich die Hoffmanschen pädagogischen Grundsätze noch nicht berührt, obere und untere Grenze waren noch nicht relevant, weil wohl auch der Markt noch nicht so ausdifferenziert war. Aber im Nachhinein erscheinen mir viele der mir damals vorgetragenen Urteile als sehr komisch.
Im Zuge der bibliothekarischen Ausbildung an der Fachhochschule stand auch eine Studienfahrt nach Berlin auf dem Programm, deren öffentliche Bibliotheken als vorbildlich galten. Die Hamburger hingegen hatten gerade erst mit einem Entwicklungsplan begonnen, der sich später aber als sehr erfolgreich erwies. Nun hatte ich gerade begonnen, mir Thomas Mann zu erobern und fuhr also mit Dr. Faustus nach Berlin. Und dann tat ich etwas, was ich nie getan hatte und nie wieder würde, ich simulierte, ich sei krank. Mit Erfolg. Die Gruppe besuchte die Bibliotheken und ich las und las und als man zurückkam, hatte ich das Buch beendet mit einem Erlebnis, das mich nie wieder verlassen sollte. Ein Buch, das mir die direkte Verbindung zum Autor und eine direkte Kommunikation mit ihm schenkte und die Einsamkeit nicht zuließ und keine Ablenkung duldete. Das war ein prägendes Erlebnis. Es hat mein Urteil und meine Liebe zu Büchern mitbestimmt. Wie weit es mein Leben verändert hat, weiß ich nicht. Aber dieses Erlebnis begleitet mich bis heute.
Ich liebte die neuere Literatur aus den USA, nicht gerade Ernest Hemingway, Der alte Mann und das Meer, war mir einfach zu viel Kampf. Lieber Carson McCullers, Die Grasharfe. Und manchmal wenngleich selten wiederholt sich das wunderbare Erlebnis, wenn man sich einem Autor gegenübersieht und gleich mit ihm vertraut ist. Dann spricht der Autor zu einem und man sieht sich antworten.
Als ich an einem Wintermorgen vor sechs Jahren, mit meiner Enkeltochter allein, den autobiographischen Roman von Willi Bredemeier las, den wir dann den Antiheimatroman nannten (mittlerweile in zweiter Auflage unter dem Titel „Der andere Heimatroman“ erschienen) dachte ich, er steht vor mir und spricht mit mir, ein einsamer Junge, nur viel mutiger als ich, auf der Suche nach Strukturen für ein Leben, das uns anfänglich so wenig Leitlinien gegeben hat. Es war, als wäre ich weit weg an diesem Morgen auf der Suche nach den Erlebnissen, die unser beider Leben geprägt hatten. Diese werden wir hier nicht definieren, aber sie gehen nicht verloren durch die Bücher, die uns begleitet haben, besonders, wenn es der Autor war, mit dem wir unsere Erinnerungen, unsere Eindrücke, unsere Prägungen teilen konnten. Das wird bleiben.
Renate Zimmermann** liest das Buch ihres Lebens.
„Zwischen 14 und 18“ von Sonja Walter
Im Alter von 14 Jahren bekam ich diesen Ratgeber für Mädchen geschenkt. Neugierig blätterte ich darin und merkte schnell, dass für jede Lebenssituation ein Abschnitt darin zu finden war. Gesunde Ernährung, Familienleben, Körperpflege, erste Liebe, Lernen, Sport, Lesen, Leben in der Gesellschaft. Über viele Dinge hatte ich mir bis dahin noch nie Gedanken gemacht und staunte über unbekannte neue Welten, die sich mir eröffneten.
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„Ich staunte über neue Welten, die sich mir eröffneten.“
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Bisher hatte ich mich nur im Kosmos meiner Familie bewegt, aber dieses Buch begleitete mich auf dem Weg in ein selbstbestimmtes, unabhängiges und – wie man heute sagen würde – achtsames Erwachsenenleben. Es diente sozusagen meiner Initiation und wurde über viele Jahre meine Bibel. Wusste ich nicht weiter, holte ich mir dort Rat. Und tatsächlich hat das Buch bis heute Einfluss auf mein tägliches Leben.
Henriette Sitterlee** liest das Buch ihres Lebens.
„Der Preis der Unsterblichkeit“ von Corrine Jackson
Dieses Buch bildet den Auftakt einer wunderschönen Trilogie. Ich fand es damals in Form eines Hörbuchs, ausgeliehen in der Bibliothek. Nach dem Hören wollte ich es auch lesen, denn man weiß ja, Hörbücher sind oft gekürzt und vielleicht bin ich auch ein paar Mal eingeschlafen…
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Lernen, sich selbst zu akzeptieren und für sich zu kämpfen.
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In dieser Buchreihe begleitete ich Remy, eine junge Frau, welche in den Konflikt zweier
Parteien reingezogen wird, der Jahrhunderte alt ist und auf Missbrauch und Tod gegründet
wurde.
Ich habe diese Trilogie lieben gelernt, da ich mit Remy Abenteuer durchlebte und
lernte, mich selbst so zu akzeptieren wie ich bin sowie für mich selbst zu kämpfen.
Andreas Stange** liest das Buch seines Lebens.
„Im Zeichen des Ypsilon“ von Dimitri Clou
Was passiert mit den Entscheidungen, die wir nicht getroffen haben? Was wird aus den Menschen, die wir hätten werden können? Ich habe dieses Buch zufällig bei einer Veranstaltung bekommen. Es beschreibt die Reise einer verworfenen Möglichkeit, die in einem verzweifelten Kampf doch noch Realität zu werden scheint.
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Danach überlegte ich mir alle Entscheidungen zweimal.
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Das Buch hat mich nachhaltig beeindruckt, weil es eine Frage beantwortet, die ich mir vorher noch nicht einmal gestellt habe, obwohl sie so naheliegend ist. Als ich es zum ersten Mal gelesen hatte, überlegte ich mir danach alle Entscheidungen zweimal. Und noch immer denke ich öfter darüber nach, wie leichtfertig und teilweise automatisch Entscheidungen gefällt werden.
**Die Texte von Henriette Sitterlee und Andreas Stange entstanden in der Schreibwerkstatt Marzahn, ein Treffpunkt für junge Autorinnen und Autoren in der Bezirkszentralbibliothek „Mark Twain“. – Kursleiterin war Renate Zimmermann.
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