Open Password: Montag, den 12. September 2016
Pushdienst 2016#103
Steilvorlagen für den Unternehmenserfolg – Bernd Jörs – Information Professionals – Qualifizierung – Reskilling – Ragna Seidler-de Alwis – Advisory Board Company – TAFE – Ben Kaden – Tibor Koltay
Information Strategies and Solutions
in Challenging Times
Ein Reskilling-Programm für
Information Professionals
Der interaktive vernetzte IP wird gebraucht
Der Keynote-Speaker der Steilvorlagen-Konferenz, Prof. Dr. Bernd Jörs von der Hochschule Darmstadt, hat fünf ebenso freche wie spannende Thesen zum Qualifikationsbedarf von Information Professionals formuliert und unter das Motto „Yes, we can, too“ gestellt. Er ergänzt sie um sechs Statements zu „Praxisrelevanz und Alleinstellungsmerkmale“. Hier kommt mit seinem sechsten Statement Jörs Alternative in Frageform zur vorherrschenden Praxis.
Sechs Statements zu „Praxisrelevanz
und Alleinstellungsmerkmale“:
Den Information Professional für morgen qualifizieren
Von Prof. Dr. Bernd Jörs, Hochschule Darmstadt, University of Applied Sciences
Statement 6: Die konkreten Qualifikationsfelder, die Praxisrelevanz und Alleinstellungsmerkmal sicherstellen, sind die Ergebnisse einer jahrelangen empirischen Befassung mit bestehenden und kommenden Praxisproblemen. Zu oft reflektierte die Praxis, dass anstehende Probleme mit den herkömmlichen Qualifikationen und altbewährten Instrumenten nur unzulänglich zu lösen waren und sind. Zu schnell hat die Digitalisierung an Fahrt aufgenommen. Es stellt sich deshalb die Frage, welche zusätzlichen Qualifikationen erworben werden sollten, um den dynamischen Entwicklungen gerecht zu werden. Wie sollte ein „Reskilling-Programm für IP mit Alleinstellungsmerkmalen (USP)“ aussehen?
Prof. Dr. Ragna Seidler-de Alwis von der TH Köln, Institut für Informationswissenschaft, hat es auf den Punkt gebracht – in ihrer Stellungnahme in der LexisNexis-Studie: „Past, Present + Future of Information Management“: „Diese geforderte Fähigkeit spiegelt sich heute bereits in den neuen Berufsbezeichnungen wider. Viele meiner Studenten arbeiten nach dem Studium zum Beispiel als Web-Analyst, SEO-Manager, Datenbank-Manager, KM-Spezialist oder auch als Social Media Manager. Der Beruf des Information Professionals erhält also neue und weitere Ausprägungen.“
Schon 2011 hat „The Advisory Board Company (Washington, DC.) im Rahmen ihrer Studie „Redefining the Academic Library – Managing the Migration to Digital Information Services“ den „Transformational Change in the Information Landscape“ zum Anlass genommen, über neue Betätigungsfelder und damit Qualifikationen ihrer Klientel nachzudenken. Denn ihrer Ansicht nach werden Einrichtungen nur erfolgreich sein, „die es bis dahin geschafft haben, für einen Großteil ihrer Mitarbeiter neue Aufgabenbereiche und Berufsbilder … zuzuweisen.“ Als die „Four Drivers of Change“ identifizierte sie unaufhaltsam steigende Kosten, brauchbare Alternativen wie Google Books, sinkende Nutzerzahlen und rapide sinkende Entleihzahlen sowie neue Anforderungen der Benutzer. Das Netz bewegt sich immer mehr weg von einem „Sammelbecken von statischen Webdokumenten zu interaktiven, dynamischen und ständig veränderbaren Webdaten“. Der Weg ist also klar: Der interaktive, vernetzte IP wird gebraucht, sonst kennt man ihn nicht und er oder sie werden nicht gefunden.
Empfohlen wird eine Befassung mit folgenden Fragestellungen und Qualifikationsschwerpunkten eines ernstgemeinten und professionellen „Reskilling-Programms für IP“:
(1) Neue Kunden- und Userbedürfnisse erfordern neue Fähigkeiten und Berufsbilder: Wissen Sie die convience-basierten Nutzerbedürfnisse der Digital Natives, Anwender und Forscher einzuschätzen (from „Just-in-Case“ to Just-in-Time“: 24/7-Service – Heute bestellt, gleich geliefert-Philosophie etc.)? Wissen Sie, wie lange Ihre Nutzer an Lesezeit für elektronische Artikel durchschnittlich aufbringen? Drei Minuten. Und bei Büchern: 5 – 15 Min. 83% der Studierenden und Mitarbeiter in Unternehmen starten ihre Informationssuche mit einer Suchmaschine, 7% beginnen bei Wikipedia. Warum beginnen sie ihre Recherche nicht bei Ihnen?
(2) Wie hat sich das Such- und Informationsverhalten der Nutzer geändert? Haben Sie dazu interdisziplinäres, verhaltenswissenschaftlich fundiertes „Information Seeking Behavior-, Information Search-Behavior-, Information User-Behavior-Know-how, wie es das moderne „Interactive Information Retrieval“ liefert? Denn es ist ja spätestens auf der ISI 2011 klar gemacht worden: „Das Information Retrieval- und Dokumenten-Paradigma ist für eine zeitgemäße Informationswissenschaft nicht mehr zureichend.“
(3) Können Sie sich vorstellen, bei den unternehmerischen Business-Intelligence- und Marketingaktivitäten über die Funktion eines „Embedded E-Information Professional“ aktiv an der nutzeradäquaten Erstellung von Fach-, Wissens-, E-Commerce- und Forschungs-Websites und -Portalen mitzuarbeiten, und zwar als anerkannte und unentbehrliche Fach- und Führungskraft?
(4) Hätten Sie das Selbstbewusstsein und die Kompetenz, als „Embedded E-Information Professional“ zur unternehmenskommunikativen Qualitätssicherung (Plagiatsprüfung, Verbreitung, Reichweitenoptimierung etc.) beizutragen?
(5) Wie machen Sie aus Ihrer IP-Arbeit eine Marke oder wollen Sie denselben Weg wie die Musikindustrie gehen?
(6) Haben Sie für Ihre Kundenberatungs- und Rechercheaktivitäten Ideen und Kompetenzen, um mit Web-2.0-Tools (Instant-Messaging-Service, Blogs, RSS-Feed, Facebook, Twitter) und mit Benutzerkommentaren, Tagging etc. zu arbeiten? Verfügen Sie über selbstimplementierte Websites oder Blogs, um Ihre Aktivitäten kommunikativ fachgerecht zu steuern und sich zeitgemäß zu vernetzen? Können Sie deren Erfolg messen bzw. nachweisen?
(7) Verfügen Sie über eine klare Vorstellung zu einer Reichweite generierenden Content-Marketing-Strategie für Ihr Unternehmen und für Ihre tägliche Arbeit?
(8) Beherrschen Sie Blogmanagement-, Wiki-, Twitter bzw. Social-Media-Management, um mit den Klienten auf gleichem Level zu kommunizieren und als Ansprechpartner ernst genommen zu werden? Möchten Sie mit verschiedenen digitalen Content-Management-Systemen umgehen? Wenn man die Stellenausschreibungen liest, sind das gefragte Kenntnisse, um mal schnell per WordPress einen Blog hochzuziehen.
(9) Findet man Ihre Arbeitsergebnisse? Beherrschen Sie Suchmaschinenoptimierung und Usability, um Ihre Websites nutzergerecht zu gestalten und die Nutzer auch zu erreichen – durch professionelles Linkbuilding und Keywording bzw. nutzeradäquate Informationsarchitektur samt Facetten-Klassifikationen?
(10) Wissen Sie, was die Nutzer/Patrons wollen, woher und wie häufig sie auf Ihre Website kommen, was sie suchen und wie lange sie auf Ihrer Website bleiben? Das heißt: Gehören professionelles Tracking, Logfile-/Page-Tagging-Analyse und Web-Analyse zu Ihren Handwerkzeugen? Kommen die Nutzer bei Eingabe der Suchterme auf die richtige Landingpage, nämlich die Ihrige, und verweilen sie dort oder ist die „Bounce-Rate“ hoch? Haben Sie A/B-multivariate Testverfahren im Köcher?
(11) Sind Sie präsent in den Social-Media-Kanälen? Können Sie dem Unternehmen, dem Marketing oder der Unternehmenskommunikation durch adäquates professionelles Content Marketing helfen und zum Unternehmenserfolg beitragen? Als IP beschaffen Sie relevanten Content. Sie wissen, wo relevanter Content zu finden ist und dass der Crawler des Google-Algorithmus genau nach solchem qualitativen hohen Content für die Indexierung Ausschau hält.
(12) Können Sie Ihre Klientel durch die anwendungsorientierte Nutzung professioneller „Enterprise Search Tools“ (FAST, Microsoft etc.) mit Suchergebnis-Vorteilen erfreuen, die gleichzeitig modernes Dokumenten- bzw. Record-Management beinhalten?
(13) Sind Sie in der Lage, die Nutzer mit mobilen Apps zu erreichen und ihre Leistungsangebote und Dienste (OPAC) zu präsentieren? Wären Sie hierfür bereit, sich ein paar „Programming Skills“ anzueignen – HTML-, CSS-, JavaScript-, Apache-, Windows-Net-, Windows 7-Programmierkenntnisse?
(14) Sind Sie in der Lage, mit Empfehlungssystemen (Recommendationsystemen) umzugehen, um Nutzerbedürfnisse zu antizipieren, und wissen Sie, wie Recommendationsysteme gebaut und für welchen Zweck eingesetzt werden? Ja, unter anderem mithilfe informationswissenschaftlicher Methoden (Collaborative Filtering, Content-Based-Filtering: Methoden des klassischen Information Retrieval).
(15) Können Sie Ihre relevanten Social-Media-Netzwerke und -Communities nach Influencer, Zielgruppen und Content-Bedarf analysieren, also nach deren Informationsbedürfnissen? Was sind die besten Analysetools und Erfolgsmessgrößen dafür, vielleicht eine moderne Social-Media-Balanced-Scorecard (SMBSC)?
(16) Wissen Sie, wie man Facebook-Fanpages pflegt, Facebook-Advertising betreibt, Facebook-Kommunikationsstrategien entwickelt und nach Wirtschaftlichkeitskriterien mithilfe von Key Performance Indicators (KPI) prüft? Warum nicht als Teil Ihrer IP-Arbeit?
(17) Wie gedenken Sie auf die Zunahme der „Sozialen Suche“ zu reagieren? Sind Sie auf die diversen Formen der „Sozialen Suche“, zum Beispiel per Recommendation oder Social Media, vorbereitet?Welche Reaktionsmöglichkeiten haben Sie, wenn die Suche nach der Google-Formel durch eine „Soziale Suche“ ergänzt oder ersetzt wird, bei der nicht die Verlinkung im Netz entscheidend ist, sondern vor allem die Erfahrungen der Freunde im Vordergrund stehen. Wäre das nicht die Chance für Sie (Vertrauen, Kompetenz)?
(18) Können Sie Ihre IP-Arbeit erfolgreich im Online-Segment vermarkten oder werden Sie nicht wahrgenommen bzw. gefunden? Können Sie sich intelligentere Paid-Content-Modelle bzw. Pay-per-Article-/itunes- oder Abo-Geschäftsmodelle vorstellen? Haben Sie Kenntnisse, wie diese Geschäfts- und Abrechnungsprozesse (Paypal) auszusehen haben?
(19) Hätten Sie Interesse, Ihr fachspezifisches Recherche-Know-how für private oder öffentliche Nachfrager besser online zu vermarkten (Beispiel: Stadtbibliothek Köln)?
(20) Hätten Sie ein fachliches Interesse an einer Ausweitung Ihres Kompetenzspektrums hin zum „IP Information Architect“? Qualifikationsschwerpunkte liegen hier im Bereich der „Findability“, der Anwendung der Library-and-Information-Science-Methodenwelt, der User-, Content- und Context-Analyse und der Informationsvisualisierung. Das heißt, Usability und user-experience-adäquater Content sind nutzergerecht, webbasiert und informationsarchitektonisch aufzubereiten.
(21) Würden Sie im unternehmerischen Corporate-E-Learning-Umfeld tätig werden oder bei MOOC-Produktionen mit Content-Post-Production sowie bei unternehmensbezogenen YouTube-Kanälen mitarbeiten?
(22) Haben Sie angesichts Ihres informationswissenschaftlichen Methoden-Skills Lust, im Bereich der Ontologie von Videoproduktionen mitzuwirken? Sie wissen doch, dass der audio-visuelle Anteil im Internet mittlerweile den textlichen Inhaltsanteil überholt hat und YouTube die zweitgrößte Suchmaschine der Welt ist.
(23) Können Sie mit Ihren informationswissenschaftlichen Methodenkenntnissen auch im Bereich der „Big Data“-Analytik“ mit Data-Textmining- oder Web Mining-Verfahrenstechniken – vielleicht erst nach einer Auffrischung – mitwirken? Dann würden Sie sehr gebraucht.
(24) In Großbritannien wurde „Programmieren“ ab der fünften Klasse zum Pflichtfach. Haben Sie Mut, sich ein paar Programmierkenntnisse anzueignen, sowohl für formale Programmiersprachen wie Java, C++ etc. als auch für webbasierte Programmier- und Skriptsprachen wie PHP, Javascript, Python etc. Wäre auch passend für die Data- und Textminingaktivitäten und um fehlende API-Kenntnisse zu vermitteln (Schnittstellenkenntnisse).
(25) 2010 hat die australische Intiative „TAFE“ (Technical and Further Education) für die IP und die Bibliothekare die nachgefragtesten Kompetenzen der Zukunft aufgezählt: Marketing, Website-Pflege, Suchmaschinen-Know-how, Meta-Daten-Pflege, Web-2.0-Know-How (Blogs, Bookmarking, Podcast, Wikis) sowie Findability.
(26) Sie besitzen informationswissenschaftlich-bibliothekarisches Know-how, also: Was ist eine Twitter-Timeline anderes als ein Current-Dienst-Verfahren? Was betreibe ich bei Delicious anderes als eine erweiterte Sacherschließung? Was erstellen wir bei Flickr anderes als ein riesiges Bildarchiv? (Ben Kaden, IWP, 62, 2011, S. 343-350).
(27) Sollen IP in Zukunft nicht mehr Video-Content produzieren oder auswerten, dokumentieren, archivieren, distribuieren, strukturieren etc.? Als „Video-IP-Manager“? Gleiches gilt für den Einsatz von (mobilen) Apps. Keine Angst, mit dem „MIT App Inventor“ geht das auch ohne Programmierkenntnisse.
(28) Welche Folgen könnte der vermehrte Einsatz von algorithmisch geprägten Recherchetools auf die Arbeit von IP haben? Wie sieht die Strategie dazu aus? Ist der RoboAnwalt nicht auch als RoboIP denkbar?
(29) Sollte man den Berufsbegriff des Information Professional zeitgemäß in „Data Professional“ umformulieren? Also doch ein massives Qualifikationsaufrüsten im Bereich der Methoden der Künstlichen Intelligenz, die doch starke Bezüge zu den Methoden der Information-Retrieval-Welt hat? Man fängt doch nicht bei Null an oder? (Quelle: Koltay, Tibor: „Data literacy for researchers and data librarians“; in: Journal of Librarianship and Information Science, 2015, 1-12)
(30) Yes, we can.
Anzeige
FAQ + Hilfe