Open Password – Freitag, den 25. Februar 2022
# 1034
Hommage an das Buch – Open Password – Simon Verlag für Bibliothekswissen – Bücher, die uns bewegten
Art Oliver Simon – Alfred Döblin – Pardon wird nicht gegeben – Elisabeth Simon – Ruth Schillling – Die drei Sprünge des Wang-Jun – Willi Bredemeier – Der andere Heimatroman – Große Wirtschaftskrise – Hans Fallada – Kleiner Mann, was nun? – Malerei – Peter Wittlich – Surrealismus und Neue Sachlichkeit – Nationale Galerie Berlin
Sybille Marks – Susanne Kippenberger – Martin Kippenberger – Museum K21 – Enfant Terrible – Exzesse und innere Zerrissenheit – Joseph Beuys – Jeder Mensch ist ein Künstler – Jeder Künstler ist ein Mensch
Andrea Gerecke – LTI – Victor Klemperer – Oscar Wilde – Erich Kästner – Emil und die Detektive – Hans Fallada – Fridolin und der freche Dachs – Jonathan Swift – Gullivers Reisen – Sprache des dritten Reiches
Anrd Hallemeier – Nachts schlafen die Ratten doch – Wolfgang Borchert – Rowolths Rotations Romane – Literarische Gespräche
Hommage an das Buch (IV)
Eine Initiative von Open Password
und dem Simon Verlag für Bibliothekswissen
Mit Herzblut, Leidenschaft und tiefen Kenntnissen über Bücher geschrieben,
„die uns bewegten“
Nun, da das Buch durch geringe Aufmerksamkeitsspannen, mangelnde Leselust und elektronische Formate bedroht ist, wird es Zeit für eine Hommage an das Buch. Open Password und der Simon Verlag für Bibliothekswissen haben sich zu dem Projekt, „Bücher, die uns bewegten“ zusammengetan und 41 Autoren gewonnen, die mit Herzblut, Leidenschaft und tiefen Kenntnissen berichten, wie sie von einem bestimmten Buch geprägt wurden.
In der vierten Folge unserer Hommage an das Buch spricht Art Oliver Simon über „Pardon wird nicht gegeben“. Das gilt für das Leben, ist aber auch eine Geschichte von Alfred Döblin. Sibylle Marks wird mit dem Leben des innerlich zerrissenen Künstlers Martin Kipppenberger konfrontiert, Andrea Gerecke geht mit Victor Klemperer der Sprache des dritten Reiches nach, und Arnd Hallemeier hat seine Meinung über Wolfgang Borchert geändert.
Art Oliver Simon spricht über das Buch seines Lebens
„Pardon wird nicht gegeben“ von Alfred Döblin
Interview mit Art Oliver Simon. Er ist freier Komponist. Er liegt jetzt seit April 2020 in der Fugger Klinik, Berlin, weil er durch eine Gehirnblutung halbseitig gelähmt wurde. Ich hatte ihm von dem Buchprojekt mit Willi Bredemeier erzählt, „Das Buch, das mein Leben veränderte“, und ihn gefragt, ob er daran teilnehmen wolle.
Elisabeth Simon: Seit dem 1. September ist nun das Bücherlager des Verlages in Deiner früheren Wohnung. Deine Schwester Ruth Schilling und ich mussten diesen Umzug sehr schnell organisieren, weil eine Zwangsräumung drohte. So sind alle Deine Sachen und besonders Deine Noten und Werke hier in guten Händen. Nichts ist verloren gegangen.
Was ich nicht wusste, das ist, dass Du eine ausgezeichnete literarische Sammlung aufgebaut hast. Es sind keine neuen Bücher. Ich nehme an, Du hast sie auf Flohmärkten und Antiquariaten z.B. in Leipzig zusammengekauft, denn Du hattest ja nie Geld. Aber es ist eine phantastische Sammlung, wirklich großartig und mein großer Trost. So bin ich Romain Gary, „Lady L“, wieder begegnet. Ich wusste nicht, was für einen phantastischen Roman Stefan Heym mit „Schwarzenberg“ geschrieben hat und Umberto Ecos „Sämtliche Glossen und Parodien“ haben mich sehr erheitert, was zurzeit ja nicht selbstverständlich ist. Alfred Döblin, Die drei Sprünge des Wang Jun, haben mich erstaunt. Dieses Buch gehört zu den wenigen Beispielen des Expressionismus, die in einem gewissen Grade populär wurden. Ansonsten ist der Expressionismus in Deutschland nicht gut verwurzelt, weil ein großer Teil der Autoren In vertrieben oder umgebracht wurde.
Also eine wunderbare Bibliothek, die ich jetzt durchlesen werde. Das hilft etwas gegen die Einsamkeit und Trauer, die mich doch oft überfällt angesichts der vielen Aufgaben, die wir als Team, wie Du immer gesagt hast, bewältigt haben. Deshalb passt das Interview zu Ehren von Willi Bredemeier sehr gut, denn er ist und war ein großer Leser, wie in seinem autobiographischen Buch „Der andere Heimatroman“ deutlich wird, und wir beide unterhalten uns sehr gern über Bücher.
Daher jetzt meine Frage: Welches Buch hat Dir einen nachhaltigen Eindruck gemacht und warum? Du antwortetest ganz spontan.
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In der Literatur gefällt mir, was ich auch in der Musik verfolge: eine einfache und klare Sprache und eine eindeutige Aussage, keine Flucht vor den Inhalten.
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Art Oliver Simon: Alfred Döblin, Pardon wird nicht gegeben. Der Inhalt: Die Witwe eines leichtfertigen Schuldenmachers zieht aus der Provinz in die Großstadt und versucht, sich dort mit ihren drei Kindern redlich durchzuschlagen. Nachdem sie von ihrem ältesten Sohn vor dem Selbstmord bewahrt wird, erwacht in ihr ein glühender Lebenswille. In zähem Ringen erobert sie für sich und ihre Kinder ein neues Glück. Der älteste Sohn, der auf der Jagd nach Geld bereits eigene Wege geht, wird das Werkzeug ihres Ehrgeizes. Er bringt es zum erfolgreichen Kaufmann. Doch die große Wirtschaftskrise stellt auch seine Existenz in Frage.
Dies soll ein autobiographischer Roman sein, den Döblin nach seiner Emigration aus Deutschland in Paris geschrieben hat. Es ist kein Frühwerk und seine Sprache gefällt mir sehr gut, einfach und klar. Eigentlich finde ich das Buch besser als „Berlin Alexanderplatz“. Es kann sein, dass mir in der Literatur gefällt, was ich auch in der Musik verfolge: eine einfache und klare Sprache und eine eindeutige Aussage, keine Flucht vor den Inhalten, wie es immer wieder unter Hinweis auf die neuen Medien und bei den sogenannten Klangkünsten versucht wird.
Aus den gleichen Gründen gefiel mir das Buch von Hans Fallada, „Kleiner Mann, was nun?“ Es war das erste Buch, was ich jetzt wieder lesen konnte. Es ist die Geschichte des Angestellten Pinneberg, der arbeitslos geworden sich freut, dass er überhaupt überlebt hat. Er wohnt in einem Ferienhaus in der Nähe von Berlin. Er hat Schulden und keine Verdienstmöglichkeiten. Angesichts der jetzigen wirtschaftlichen Misere muss man fürchten, dass dieses Buch nicht nur sehr aktuell war, sondern auch wieder sehr aktuell werden wird.
Ich kann ja zurzeit nur schlecht lesen, weil meine Spannkraft im Vergleich zu der Zeit vor meiner Krankheit früh nachlässt. Aber ich habe mich immer sehr für moderne Kunst (Malerei) interessiert. Es gibt Bilder, bei denen ich das Gefühl habe, der Maler hat ähnlich wie ich empfunden und wollte genau dieses in seinem Werk ausdrücken. 2018 waren wir nach Wien gefahren, weil wir auf der dortigen Buchmesse einen Stand hatten. Auf unserer Rückfahrt legten wir einen Stopp in Prag ein und besuchten in der National Galerie eine Ausstellung über die Tschechische Sezession. Sie war wunderbar. Man konnte dort Bilder sehen und Maler kennenlernen, von denen wir keine Ahnung hatten. Peter Wittlich hat in Tschechisch darüber ein Buch herausgebracht, das ich jetzt jeden Abend lese und mit großer Freude ansehe und mich noch mehr danach sehne, dass mir noch einmal ein Besuch in Prag ermöglicht wird. Nachdem ich 14 Tage mit diesem Buch verbracht hatte, habe ich als nächstes Buch „Surrealismus und Neue Sachlichkeit“ begonnen, das auch die Dokumentation einer Ausstellung in der National Galerie in Berlin ist. Ich schaue auf wunderbare Bilder und fühle mich hier in der Klinik nicht mehr so allein. So habe ich bei meinen Versuchen, wieder zu komponieren, eine gute Begleitung in der Einsamkeit und mit einem Schicksal, das täglich meinen Mut und neue Hoffnung braucht.
Sibylle Marks liest das Buch ihres Lebens
„Kippenberger. Der Künstler und seine Familien“
von Susanne Kippenberger
Die ausführliche Biographie über den Künstler Martin Kippenberger las ich im Erscheinungsjahr 2007 im Sommerurlaub in Italien.
Im Jahr zuvor hatte ich im Düsseldorfer Museum K21 eine Retrospektive des außergewöhnlichen und mir bis dato relativ unbekannten Künstlers besucht. Seine Werke, geprägt von feiner Intelligenz, Schonungslosigkeit und einem wundervollen Sinn für Humor weckten mein Interesse sofort, sie faszinierten mich, es war überhaupt keine Frage: Das fast 600 Seiten zählende Buch, Susanne Kippenbergers Hommage an ihren Bruder „Kippi“, musste in meinen Reisekoffer. Und da lag ich nun jeden Tag auf meiner Sonnenliege am Pool und tauchte ein in das Leben dieses wirklich außergewöhnlichen Menschen, 1953 in Dortmund geboren, wie ich in Essen aufgewachsen, bevor er nach Hamburg und Berlin ging, wo er recht bald zum enfant terrible der deutschen Kunstszene wurde.
Nicht nur über Kippenbergers enorme Schaffenskraft erfuhr ich viel, sondern auch über die besondere Beziehung zu seinen „Familien“, den Eltern, den Schwestern, seinen Künstlerfreunden und last but not least seiner Ersatzfamilie im Schwarzwald, den Grässlins, Galeristen und Förderer Kippenbergers. Dorthin zog er sich immer wieder nach künstlerischen (und alkoholischen) Exzessen zurück, um neue Kraft zu tanken. Dort lebte er dann für ein paar Wochen völlig asketisch. „Sahara-Programm“ nannte er das.
Noch mehr ins Detail zu gehen, würde hier zu weit führen, aber ich kann jedem, der die Zerrissenheit einer Künstlerseele besser verstehen möchte, die Lektüre dieses Buches nur wärmstens empfehlen. Mich hat sie damals umgehauen.
Da lag ich also auf meiner Sonnenliege, hatte ganz vergessen, dass um mich herum viele andere Menschen dasselbe taten, und ich schmunzelte ständig beim Lesen, ich lachte sogar einige Male laut auf, und nicht selten liefen mir Tränen der Rührung über die Wangen.
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Jeder Mensch ist ein Künstler! Jeder Künstler ist ein Mensch!
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Zu lesen, wie ein Mensch, der, um seine künstlerische Vorstellung umzusetzen, auf der einen Seite so kompromisslos, exzessiv und manchmal auch ziemlich gnadenlos sein konnte, aber auf der anderen Seite so liebevoll und verletzlich war, das hat mich sehr bewegt und hallt bis heute nach.
Joseph Beuys sagte: „Jeder Mensch ist ein Künstler!“ Martin Kippenberger drehte den Spruch kurzerhand um: „Jeder Künstler ist ein Mensch!“
1997, im Alter von nur 44 Jahren starb dieser bemerkenswerte Mensch an Leberkrebs. Zur weltweiten Anerkennung seines umfangreichen Werkes kam es erst posthum. Das hätte ihm bestimmt gefallen.
Andrea Gerecke liest das Buch ihres Lebens.
„LTI“*** von Victor Klemperer
Natürlich gibt es auch bei mir ganz viele Bücher, die meinen Lebensweg von Kindesbeinen an prägten. Und viele dieser schätzenswerten Wegbegleiter stehen nach wie vor in meinem Bücherregal, gehören sie doch quasi zur Familie, sind meine Vertrauten. Ich sehe mich noch, gekuschelt ins Bett, wie man mir vorlas und ich nie genug davon bekommen konnte. Noch einmal, bitte noch einmal die Verse von der kleinen Hexe, die schon morgens früh um sechs kommt und um sieben gelbe Rüben schabt… Die Märchen von Oscar Wilde berührten mich zutiefst, vor allem das vom „Eigensüchtigen Riesen“, der in meiner Fantasie lebte, ebenso wie „Die Nachtigall und die Rose“. Ich verschlang alles, was ich von Erich Kästner in die Finger bekommen konnte, nachdem ich auf „Emil und die Detektive“ gestoßen war. Von Hans Fallada war es zunächst „Fridolin der freche Dachs“, der mich absolut fesselte… oder auch „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift. Das und so vieles mehr legte die Basis für meine Liebe zur Literatur, weshalb ich meinen Angehörigen unendlich dankbar bin, dass sie mich dafür sensibilisierten. Für meinen Lesehunger nahm ich weite Wege zu meinen Bibliotheken in Kauf, immer mit schwerer, kostbarer Last zurück und wieder hin – damals erledigten Kinder in Berlin so etwas noch zu Fuß…
Wirklich verändert hat mich dann „LTI“ von Victor Klemperer, das ich auf der Oberschule las – zutiefst erschüttert, was Sprache im Dritten Reich alles vermochte und wozu sie generell in der Lage ist. Vielleicht habe ich mich genau deshalb für den Beruf als Journalistin und das Schriftstellerische entschieden. Natürlich habe ich später auch die Tagebücher des von den Nazis verfolgten Germanisten gelesen, in denen er sein Schicksal von 1933 bis 1945 festhielt und ein Stück weit auch dadurch am Leben blieb.
*** Lingua Tertii Imperii = Sprache des Dritten Reiches.
Arnd Hallemeier liest das Buch seines Lebens.
„Nachts schlafen die Ratten doch“
von Wolfgang Borchert
Im Alter von zwölf Jahren forderte uns der Deutschlehrer auf, aus einem unserer Bücher vorzulesen. Ich wie auch die meisten Klassenkameraden brachten Bücher mit, die kindlich geprägt waren. Ein Schüler jedoch las die Erzählung „Nachts schlafen die Ratten doch“ von Wolfgang Borchert vor.
Dieser Eindruck war wie eine Erleuchtung für mich. Zum ersten Mal spürte ich, was Literatur sein kann. Ohne, dass ich das näher für mich benennen konnte. Sofort besorgte ich mir den rororo-Sammelband von Wolfgang Borchert. Auf einmal hielt ich kein kindliches, sondern ein „erwachsenes“ Buch in der Hand. Diese Erfahrung legte den Keim für alle meine weitere Literaturbegeisterung.
Heute sagt mir Wolfgang Borchert nichts mehr. Ich halte ihn als Nachkriegserscheinung zu Recht für vergessen.
Mit dem Klassenkameraden, der das vorgelesen hatte, feierte ich einige Jahre später denkwürdige Silvester: Wir führten literarische Gespräche . . .
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