Open Password – Mittwoch,
den 20. Juni 2018
# 385
Elisabeth Simon – Bibliothekartag – Bibliotheken – Willi Bredemeier – Perspektivlosigkeit – Folien – Verlage – Rechtsradikale Literatur – Sinkende Druckkostenzuschüsse – Altmetrics – ZB MED – Wiki Cite – ORCID – Universität Regensburg – GESIC – Directive on the copyright in the digital single market – Open Access – Repositorien – Elsevier – Wiley – Springer – DFG – Rafael Ball – Geisteswissenschaften – Kleine Verlage – Lektoratskooperation – ZLB – George W. Bush – Henry Miller – Board of Trustees – ALA – Informationsfreiheit – Informationelle Grundversorgung – EKZ – Francois Marie Arouet Voltaire – Geschichtswissenschaft und Altertumswissenschaften – Print – Publishing on Demand – Fake und Falschinformationen – David Lankes – Kulturstiftung – Medienecho – FAZ-Feuilleton
Bibliothekartag (1)
Vielleicht alles sinnvolle kleine und kleinste Projekte, aber wo bleibt die Perspektive
und der „Blick über den Tellerrand“?
Von Willi Bredemeier
Elisabeth Simon zieht in dieser Ausgabe von Open Password ein „politisches Fazit“ des Bibliothekartages und es fragt sich wirklich, ob das, was sie geschrieben hat, den Bibliothekartag in seinen Abläufen repräsentativ widerspiegelt. Die Antwort kann nur „Nein“ lauten, denn sie hat das ausgewählt, was ihr auch für eine breitere Öffentlichkeit als interessant und relevant vorkam. Das führt uns zu einer weiteren Frage: Wenn der Bibliothekartag trotz 4.000 Teilnehmer nicht einmal von den Berliner Tageszeitungen und von den nationalen Medien schon gar nicht beachtet wurde, wie relevant war der Bibliothekartag dann für die breitere Öffentlichkeit und wie relevant war er für die Bibliothekare selbst?
Um hier vorläufige Antworten zu finden, habe ich https://opus4.kobv.de/opus4-bib-info/solrsearch/index/search/searchtype/collection/id/16685 angeklickt, wo die Folien zu mehr als 200 Vorträgen auf dem Bibliothekartag eingestellt sind (weitere sollen folgen). Ich habe mir noch einmal des Programm des Bibliothekartages angesehen und dazu im Einzelnen drei bis vier Dutzend Abstracts und Foliensets. Es gibt eine gute Nachricht: Die Abstracts scheinen mit den Jahren besser geworden und sind zum guten Teil durchaus informativ.
Was das Programm angeht, so könnte jeder der Vorträge sinnvoll gewesen sein. Insgesamt jedoch fühlen wir uns von der Vielzahl der vorgestellten kleinen und kleinsten Projekte überrannt und fehlt das, was wir bei der Planung der „Steilvorlagen“-Veranstaltungen „Über den Tellerrand schauen“ genannt haben, fast völlig, also die Perspektive. Da muss man sich fast schon wundern, wie viel Relevantes für eine breitere Öffentlichkeit Frau Simon doch noch gefunden hat. Dabei wäre ein perspektivisches Denken oder eine Debatte um die Zukunft der Bibliotheken unter Bibliothekaren durchaus möglich, wie Erda Lapp von der Ruhr-Universität Bochum in ihrem Beitrag in Open Password in der letzten Woche unter Beweis gestellt hat, und gab Frau Lapp mit „Inspired by Lankes“ zugleich ein Paradigma an, in dem eine solche Debatte geführt werden könnte.
So, nämlich mit dem weitgehenden Verzicht auf Perspektiven, kann man, statt sich den Herausforderungen zu stellen und sie zu bewältigen, Zukunft auf die Dauer verspielen.
Jetzt komme ich zu den Foliensets. Bei keinem dieser Sets kann ein Leser, der nicht auf dem Bibliothekartag war, in hinreichendem Maße auf die Inhalte schließen. Dass sich einer, der dort war, noch mal zu den Folien durchklickt, halte ich für unwahrscheinlich. Wozu dann die Sets? Hier muss ich zugeben, dass das Einstellen von Folien zu niemandem Nutzen auch woanders grassiert. Aber das macht das Ganze nicht sinnvoller. Ist es nicht an der Zeit, dass jemand wie im Märchen sagt, dass der Kaiser nackt ist?
- Bibliothekartag (II):
Ein politisches Fazit
Bibliotheken und Verlage als
„ziemlich beste Feinde“
Was tun mit rechtsradikaler Literatur,
was mit den sinkenden Druckkostenzuschüssen?
Von Elisabeth Simon
- Bibliothekartag unter dem Motto „Offen und vernetzt“ im Estrel Congress Center Berlin (www.bibliothekartag2018.de). Eigentlich wollte der Eigentümer des Estrel-Hotels das ICC in Berlin kaufen und wieder zu einem Kongresszentrum gestalten. Dieses war nicht möglich, so dass er es mit der gleichen Absicht beim Estrel-Hotel versuchte. Zum Ergebnis kann man ihn nur gratulieren. Ein übersichtlicher und angenehmer Rahmen für den 107. Bibliothekartag nach dem 100jährigen Jahrestag für Bibliotheksverbände 2008 in den gleichen Räumen in Berlin-Neukölln. Es muss ja nicht immer Berlin-Mitte sein.
„Offen und vernetzt“ ist ein mehrschichtiges und ambivalentes Motto, das einerseits zur Zusammenarbeit auffordert, andererseits aber auch als Alibi für Korruption missbraucht werden kann, einerseits dem freien ungehinderten Zugang zu den Informationen (Open Access) dient, andererseits jedoch den Aufbau von Barrieren nicht immer verhindert. Diese Ambivalenz wurde auch durch diverse Fallstudien nicht beseitigt, beispielsweise nicht durch
– die Implementierung von Altmetrics in die eigenen Bibliotheksdienstleistungen bei der ZB MED,
– Entwicklungen um Wiki Cite als kollaborativer Ansatz für offene Zitationsdaten und
– die ORCID-Integration in das institutionelle Repositorium der Universität Regensburg.
Um die manchmal schwierige Zusammenarbeit zwischen Bibliotheken und Verlagen ging es auf der Podiumsdiskussion „Ziemlich beste Feinde? – Wie entwickeln Bibliotheken und Verlage ihre Beziehung in der Zukunft?“, zu der die GESIC – Netzwerk Fachinformation eingeladen hatte. Die jetzt vorliegende „Directive on the copyright in the digital single market“ und der Widerspruch der ZB MED dazu („Urheberrechtsreform mit gravierenden Nachteilen für Innovationsstandort Deutschland – Einschränkungen, Rechtsunsicherheiten, divergierende Umsetzungen – Kontra Anbietervielfalt und Open Access“, in: Open Password, 12. Juni) lagen den Teilnehmern nicht vor, sonst wäre die Diskussion wahrscheinlicher noch heftiger ausgefallen. Immerhin wurden die gegenseitigen Standpunkte vor dem Hintergrund des Strukturwandels der wissenschaftlichen Zeitschriften herausgestellt, der in seinen Grundzügen an die Zeitschriftenkrise in den 90er Jahren erinnert. Mittlerweile hat sich zwar im Streit zwischen Bibliotheken und Wissenschaftler einerseits und den Verlagen auf der anderen Seite Open Access über die Repositorien der Bibliotheken ausgebreitet, die Budgets der Bibliotheken werden aber nach wie vor durch die Preispolitik von Elsevier, Wiley und Springer strapaziert. Immerhin reichen die Kooperationen der Repositorien mittlerweile über das einzelne Repositorium und auch über die Landesgrenzen hinaus. Siehe zum Beispiel die Zusammenarbeit zwischen Wien und Regensburg.
Inzwischen ist aber auch deutlich geworden, dass Open Access Teil eines Transformationsprozesses ist, der zu Verminderungen bibliothekarischer Etats führen kann. So sind die DFG und die weiteren Fördereinrichtungen immer weniger bereit, Druckkostenzuschüsse zu zahlen. Vielmehr weisen sie auf die Möglichkeiten hin, wissenschaftliche Ergebnisse elektronisch zugänglich zu machen, weil dies deutlich billiger sei. Dabei werden die Geisteswissenschaften in den Debatten um Open Access weitgehend ausgeklammert, woran Rafael Ball, Bibliotheksdirektor der ETH Zürich, erinnerte. Bis zu 50 % des Etats auch großer Universalbibliotheken werden aber immer noch für die Geisteswissenschaften ausgegeben und zwar auch für Printmedien aus einer Vielzahl kleiner und mittlerer Verlage, die für die soziale und kulturelle Entwicklung Deutschlands unersetzlich geblieben sind.
Um die Möglichkeiten bibliotheksübergreifender Kooperation ging es bei der „Kollaborativen Marktsichtung – Wie gehen Sie mit der Neuen Rechten im Bibliothekregal um?“, dies eine Veranstaltung der Lektoratskooperation.Von der radikalen Ablehnung solcher Anschaffungen durch den Vertreter des Verbrecherverlages bis zu den stark differenzierenden Positionen der ZLB erinnerte die Diskussion an die heißen Debatten der 50er und 60er Jahre um die „untere Grenze“. Als Beispiel sei die persönlich erfahrene Konfrontation mit der US-amerikanischen Anschaffungspraxis genannt. Dort war man zwar der Meinung, dass Henry Millers Werk „Wendekreis des Krebses“ ein „filthy book“war, es aber nichtsdestotrotz in alle Bibliotheken gehörte, wenn nicht der Board of Trustees, das oberste Gremium der Bibliothek, dagegen Einspruch erhoben hatte. Wie wir heute wissen, haben dieses Gremium wie auch Präsident Bush jr. und seine Gehilfen massiv in die Anschaffungspolitik amerikanischer Bibliotheken eingegriffen, was zu einer massiven Abwehr der Bibliothekare führte und einen ganzen Bibliothekartag der ALA beschäftigte Das Fazit: Bücher wie „Germania finis“ oder „Opa war kein Nazi“ sollten der Bevölkerung im Rahmen der Informationsfreiheit zur Verfügung gestellt werden, weil sie verlangt werden und für die politische Urteilsbildung und die fundierte Auseinandersetzung mit rechten Gruppierungen notwendig sind. Die Nutzer bringen keinerlei Verständnis dafür auf, wenn ihnen diese Werke verweigert werden. Dabei sollte der einzelnen Bibliothek überlassen bleiben, nach eigenen Kriterien zu entscheiden, ob solche Bücher im Rahmen der informationellen Grundversorgung angeschafft werden sollten oder nicht.
Was aber, wurde eingeworfen, wenn die Lektoratskooperation im vorauseilenden Gehorsam solche Titel gar nicht in ihr Programm und zur Besprechung aufnähme oder wenn die Anschaffung neuer Titel wie in Berlin gar nicht mehr den einzelnen Bibliotheken überlassen bliebe, sondern die Vorschläge mit dem Verkaufsrecht der EKZ gekoppelt würden? Zu Berlin: Wieder ein gutes Beispiel. wie eine gut gemeinte, aber schlecht geplante Kooperation der Sache der Bibliotheken schadet. Die Diskussion endete mit dem Zitat von Voltaire: „Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“
Dies war ein Bibliothekartag, der sich darum bemühte, die praktische Arbeit der Bibliotheken dem Wandel ihres Umfeldes anzupassen, wie auch die öffentliche Arbeitssitzung der Fachsession „Geschichtswissenschaft und Altertumswissenschaften“ zeigte (historicum.net). Dort trägt man den Wünschen der Wissenschaftler Rechnung, die bis heute das gedruckte Buch der elektronischen Ausgabe vorziehen. So wird ein neues Werk sowohl in Print als auch in elektronischer Form verfügbar gemacht. Weitere Exemplare können im „Publishing on Demand“ kostengünstig hergestellt werden.
Der Bibliothekartag galt immer auch als Fortbildungsveranstaltung. Dieser hier in Berlin erfüllt diese Aufgabe nach meinen Eindrücken sehr gut und gab den Kollegen und Kolleginnen genügend Raum fürs Netzwerken und für Gespräche. Was fehlte. war eine Aussprache über die Rolle der Politik und der staatlichen Förderung, die über die „Ziemlich besten Feinde“ und die Anschaffung rechtsradikaler Bücher hinausging. Bei den sinkenden Druckkostenzuschüssen der DFG schienen sich die Bibliothekare lieber nicht festlegen zu wollen. Auch spielten „Fake und Falschinformationen“ nach meinen Eindrücken kaum eine Rolle und auch nicht die „Andere Bibliothek“, die zu einem offenen Brief des David Lankes in der Zeitschrift der Kulturstiftung des Bundes 2018-2022 über die Förderungen dieser Stiftung geführt hatte. Er sollte wohl in das Förderprogramm der Stiftung für Öffentliche Bibliotheken einführen. Auch ist bedauerlich, dass der Bibliothekartag weder im regionalen Fernsehen noch in der Berliner Presse erwähnt wurde. Dabei wäre ein besseres politisches und mediales Standing nicht nur für Bibliotheken wichtig, zumal wir in einer Zeit leben, in der praktisch in allen Debatten von den Problemen der Migration bis zu den verrotteten Schulen die „Bildung“ vorkommt. Da musste man schon dankbar sein, dass das FAZ-Feuilleton den Bibliothekartag zum Anlass nahm, um die unverzichtbare kulturelle Bedeutung der Bibliotheken zu begründen.
Bild: Elisabeth Simon auf Buchmesse Berlin Buch.
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