Open Password – Freitag, den 20. Mai 2022
# 1073
Hommage an das Buch – Open Password – Simon Verlag für Bibliothekswissen – Katharina Loonus – Siddharta – Hermann Hesse – Germanistik – Der Steppenwolf – Selbstfindung – Govinda und Gotama – Weltliches Leben – Vollendung der Lehre – Vollkommener Frieden – Buddhismus – Die Lehr des Buddhismus – Hinduimus – Freundschaft – Tod – Liebe zu den Bäumen – Nur den eigenen individuellen Weg im Leben – Es ist alles gut
Oliver Richter – 4 3 2 1 – Paul Auster – Vorstadt – New York – Bürgerrechtsprotete – Martin Luther King – John F. Kennedy – Studentenunruhen – Vietnamkrieg – Erwachsenwerden in einer unruhigen Welt – Wahnsinn hinter den Türen – Demokratische Partei – Paul Richter – Rangas Welt: Ach so! & Sonst noch Fragen? – Ranga Yongeshwar
Hommage an das Buch (XVI)
Eine Initiative von Open Password
und dem Simon Verlag für Bibliothekswissen
Mit Herzblut, Leidenschaft und tiefen Kenntnissen über Bücher geschrieben, „die uns bewegten“
Nun, da das Buch durch geringe Aufmerksamkeitsspannen, mangelnde Leselust und elektronische Formate bedroht ist, wird es Zeit für eine Hommage an das Buch. Open Password und der Simon Verlag für Bibliothekswissen haben sich zu dem Projekt, „Bücher, die uns bewegten“ zusammengetan und 41 Autoren gewonnen, die mit Herzblut, Leidenschaft und tiefen Kenntnissen berichten, wie sie von einem bestimmten Buch geprägt wurden.
In der 16. Folge unserer Hommage an das Buch begibt sich Katharina Loonus mit Hermann Hesse auf dem Weg zum vollkommenen Frieden, Oliver Richter nimmt am Erwachsenenwerden in den unruhigen Jahren von der US-Bürgerrechtsbewegung bis zu den studentischen Protesten gegen den Vietnamkrieg teil und Paul Richter lernt von Ranga Yogeshwar, dass man auch scheinbar 0selbstverständliche Dinge hinterfragen muss.
Katharina Loonus liest das Buch ihres Lebens.
„Siddharta“ von Hermann Hesse
Im Nachbargarten reckt eine große Tanne ihre fedrigen Zweige in alle Richtungen. Die Zweige sind dicht benadelt, bewegen sich leicht im Wind – nur an einer Stelle wird eine Lücke offenbar. Dort befindet sich der Eingang zum Zuhause zweier Tauben, die als Pärchen lebend ihr Taubendasein fristen und gelegentlich auf dem Nachbardach gurren oder aber über die Gärten und Häuser Schildesches, unseres Zuhauses in Bielefeld, fliegen.
Diese Tanne erinnert mich oft an eine nun schon langjährige Freundschaft mit einem Mann, der wie kein zweiter Bäume beschreiben und bewundern konnte. Überhaupt hatte er einen Blick für das Besondere im Gewöhnlichen, für das Gefühl, das ein Baum, ein Fluss, eine Erinnerung auslösen kann. Die Rede ist von Hermann Hesse.
Ich traf ihn das erste Mal auf einer Zugreise von Glückstadt, meiner Heimat im Norden Deutschlands, nach Osnabrück. Damals, gerade 19 Jahre alt, befand ich mich in einer Übergangsphase: Ich hatte einen neuen Freund in Osnabrück (mit dem es am Ende nicht geklappt hat), hatte nach dem Abitur ein halbes Jahr Auslandsaufenthalt in den USA hinter mir und ich wartete auf den Start des Semesters, in welchem ich mein Germanistik-Studium beginnen konnte. Mit dem Studium war das so eine Sache: Nach meiner USA-Reise und unter dem Einfluss meiner neuen Liebe hatte ich meinen Hang zur Literatur und zum Lesen wiederentdeckt und meine ursprünglichen Pläne, Ökotrophologie oder irgendetwas anderes mit Biologie oder Landwirtschaft zu studieren, über den Haufen geworfen. Ich war jung, bereit für die zahlreichen Möglichkeiten, die mir offen standen, aber im tiefen Innern auch etwas unsicher ob des richtigen Pfades im Leben, ständig bereit meine Meinungen und Ziele zu ändern und zu re-evaluieren. In dieser Zeit also sprach Hesse das erste Mal zu mir und er tat es in Form des „Steppenwolfes“ – und ich fühlte mich verstanden und angeregt von einem Werk, das die menschliche Psyche so oft so treffend beschreibt, ohne belehrend oder aufdringlich zu sein.
Dennoch ist „Der Steppenwolf“ nicht das Buch, das mein Leben veränderte. Er trug seinen Teil bei, indem er Hermann Hesse in mein Leben führte, und so las ich über die Jahre das ein oder andere Buch von ihm. Das Buch, das ich am häufigsten gelesen habe und über das ich hier schreiben möchte, ist „Siddharta“.
Es gibt Bücher, Filme, Musik und andere Kunstwerke, die sprechen zu einem und erzählen einem jedes Mal etwas Hilfreiches, egal in welcher Situation man sich ihnen aussetzt. Jedes Mal, wenn ich „Siddharta“ in die Hand nehme, finde ich etwas Schönes darin und jedes Mal gibt es Stellen, die mich zum Schmunzeln bringen oder zu Tränen rühren. Und jedes Mal finde ich ein Stück von mir selbst in diesem Buch.
Selbstfindung ist auch das zentrale Thema dieses Entwicklungsromans. Siddharta, in einer frommen Brahmanenfamilie in Indien aufgewachsen, spürt in seiner Jugend die Ruhelosigkeit seiner Seele und zieht, begleitet von seinem treuen Freunde Govinda, aus, seine Bestimmung zu finden. Viele Menschen begegnen ihm unterwegs, so auch Gotama, der Erleuchtete, welchem Govinda sich entschließt zu folgen. Siddharta dagegen zieht weiter, sich dessen bewusst, das das Befolgen einer fremden Lehre ihm nicht seinem Innersten und seiner eigenen Lehre näher bringt („Wäre ich nun einer deiner Jünger, o Ehrwürdiger, so fürchte ich, es möchte mir geschehen, daß nur scheinbar, nur trügerisch mein Ich zur Ruhe käme und erlöst würde, denn ich hätte dann die Lehre, hätte meine Nachfolge, hätte meine Liebe zu dir, hätte die Gemeinschaft der Mönche zu meinem Ich gemacht“, S.34). Er erkundet und heißt das weltliche Leben willkommen, lernt die körperliche Liebe kennen, entfernt sich von seinen ursprünglichen frommen Werten und findet doch am Ende zu ihnen zurück. Reichtum und Besitz hinter sich lassend wird er schließlich Fährmann und lernt vom Flusse und vom weisen Fährmann Vasudeva. Mehrere Male begegnet ihm sein alter Freund Govinda, welcher als buddhistischer Mönch immer auf der Suche nach der Vollendung der Lehre und nach dem vollkommenen Frieden ist. Siddharta hat diesen am Ende gefunden – wie er erkennen muss gerade wegen seiner vorangegangenen weltlichen Ausschweifungen und seines sinnlichen Lebens.
Wie man anhand des Inhalts, des Titels und der Motive erkennen kann, geht es in Siddharta natürlich vordergründig um Buddhismus. Abgesehen davon, dass ich mich generell als nicht religiös bezeichnen würde und dass ich von jeher eher der Philosophie zugeneigt war, ist der Buddhismus meines Erachtens ein interessanter Mittelweg und spiegelt Ideen wider, denen ich sehr zugeneigt bin (das fand ich übrigens bestätigt, nachdem ich einmal aus einem Hotelzimmer „Die Lehre des Buddhismus“ entwendete und von vorn bis hinten durchlas – die Gesellschaft zur Förderung des Buddhismus, die das Buch sponserte, würde sich sicher freuen). Dennoch ist „Siddharta“ keinesfalls als missionarische Schrift zu verstehen. Der Schauplatz Indien und die mystischen Motive aus Buddhismus und Hinduismus transportieren eine Botschaft, die universaler ist als das.
Da wäre zunächst die Freundschaft zwischen zwei Männern, die tief verwurzelt ist in Zusammensein in der Kindheit und in Loyalität und Sympathie füreinander, gleichzeitig aber in dem Anerkennen der Individualität und des jeweiligen Lebenspfades des anderen. Siddharta und Govinda trennen sich noch jung voneinander, um ihren jeweiligen Bestimmungen zu folgen, und dennoch führt das Leben diese beiden mehrmals wieder zusammen.
Auch der Tod ist ein Thema. Immer wieder im Leben halte ich inne und verstehe Hesses Liebe zu Bäumen. Im Herbst, wenn das Laub in den buntesten Farben erstrahlt und zu Boden fällt, offenbart sich die Schönheit des Vergänglichen. So ist auch im Siddharta der Tod etwas Natürliches und Ästhetisches. Die schöne Kamala stirbt und hinterlässt Siddharta einen Sohn. Der erleuchtete Gotama stirbt und hinterlässt viele Anhänger, die seiner Lehre auch weiterhin folgen. – Und der weise Vasudeva tritt strahlend in den Wald, veschwindet zwischen den Bäumen, um in die Einheit zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt ist klar, dass Siddharta sein Erbe antreten wird und beide umgibt eine feierliche Stimmung vollkommenem Verstehens. Sein und Werden sind eins, wie es der Fluss sie gelehrt hat und wie es sich hierzulande im Jahreszyklus der Bäume beobachten lässt.
Mit dieser Erkenntnis geht eine andere Tür auf: Wie einst Siddharta von zu Hause auszog, das Leben zu erkunden und seine Bestimmung zu finden, so entfernt sich auch Siddhartas Sohn von ihm. Alles kehrt wieder, Leben und Sterben sind unzertrennbar miteinander verwoben.
Zuletzt bleibt die Frage, was denn nun zum Sinn des Lebens führt. Siddharta muss das Leben mit seinen Sinnen erfahren, bevor er seinen Sinn finden kann („Ich habe durch so viel Dummheit, durch so viel Laster, durch so viel Irrtum, durch so viel Ekel und Enttäuschung und Jammer hindurchgehen müssen, bloß um wieder ein Kind zu werden und neu anfangen zu können. Aber es war richtig so, mein Herz sagt ja dazu, meine Augen lachen dazu.“, S.80-81). Gerade die menschliche Schwäche, das Scheitern und das Umherschweifen führen dazu, dass Siddharta den Fluss und damit das Leben versteht und sich zu einem gottgleichen Wesen erhebt. Auch Govinda findet am Ende Sinn durch ein letztes Treffen mit Siddharta. Beide Pfade führen zur Erkenntnis, es gibt kein schwarz und weiß, kein richtig und falsch, nur den eigenen, individuellen Weg im Leben.
Und so ist Siddharta ein für mich besonderer Roman, in dem der Trost steckt, dass alle Erfahrungen, die das Leben einem schenkt, zu mehr Erkenntnis und Sinn führen – auch dann, wenn man sich vom rechten Pfad abgekommen sieht. Dieser Gedanke vermittelt ohne Umschweife: Es ist alles gut.
Meine Augen wandern zurück zum Zuhause des nachbarlichen Taubenpaares. Die Tauben sind nicht zu sehen, doch der Baum ist immergrün wie es sich geziemt für eine Tanne – hier gibt es kein symbolisches Absterben der Blätter; das dichte Nadelkleid wird sicher weiterhin und stetig durch alle Jahreszeiten vielen Vögeln Obhut bieten. Ich bin mir sicher, die Tauben machen sich keine Gedanken darüber.
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Anmerkung
Die Zitate stammen aus der folgenden Ausgabe: Hermann Hesse: Siddharta. Eine indische Dichtung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2007.
Oliver Richter** liest das Buch seines Lebens.
„4 3 2 1“ von Paul Auster
Paul Auster erzählt in seinem Roman die Geschichte des Archibald Ferguson, der Ende der 1940er in New Jersey geboren wird und dessen Geschichte Auster in vierfacher Ausführung fortführt. Genetisch sind die vier Fergusons identisch, doch führen verschiedene Personen und Ereignisse im Laufe derer Leben zu sehr unterschiedlichen Biografien. Der Erste ist sich seiner selbst sehr unsicher und hat Probleme mit seinem Vater. Der Zweite stirbt schon als Kind und erlebt das Ende des Buches nicht, denn auch der Tod ist im Leben eine Option. Der Dritte verliert im Kindesalter seinen Vater und hat nur Ärger und Probleme, er schlittert von einem Minenfeld ins andere. Der Vierte ist der Gesündeste, der am Ende auch das Buch schreibt. Er ist sportlich, hat einen ausgeprägten Sinn für Musik und ihn wie alle anderen zieht es auf die eine oder andere Weise hin zum Schreiben.
Ferguson wächst in einer amerikanischen Vorstadt auf. Er erlebt seine Kindheit als einen wohlbehüteten Ort, wo er nach der Schule mit seinen Freunden Baseball und Football spielt und abends bei seinen Eltern zu Abend isst und ins Bett gebracht wird. So vergehen die Jahre seiner Kindheit, bis Ferguson diese Vorstadt irgendwann als einengend und spießbürgerlich empfindet und er von dort nur noch wegwill. Ihn zieht es auf die andere Seite des Hudson River, in die Weltstadt New York. Dort geht er zum College und wird in weltpolitische Ereignisse hineingezogen, in die schwarzen Bürgerrechtsproteste und die Ermordung von Martin Luther King und John F. Kennedy, aber auch in die Studentenunruhen rund um den Vietnamkrieg. Dabei wird Amy Schneidermann, die Nachbarin seiner Tante, seine ständige Begleitung. Sie wird Fergusons erotisches Ideal. Mal trennen sich ihre Wege, mal verlieren sie sich aus den Augen und finden dann wieder zusammen und entfremden sich abermals.
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Vom Erwachsenenwerden in einer unruhigen Welt.
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Paul Auster beschreibt das Erwachsenwerden in einer unruhigen Welt, aber auch in der scheinbar idyllischen Vorstadt gedeiht der Wahnsinn hinter den Türen. Die USA sind seit jeher ein in der Politik viel dynamischeres Land als Europa. Die enormen Veränderungen dort gehen an Ferguson nicht spurlos vorbei. Er tritt in offene Opposition zu seinem Vater und engagiert sich bei der Demokratischen Partei. Er steht für das liberale, weltoffene, tolerante Amerika. Und ja, die Geschichte Fergusons ist auch irgendwo und irgendwie meine Geschichte.
Der Roman endet damit, dass dem vierten Ferguson an einem Silvesterabend von seiner Mutter erzählt wird, dass sein Großvater aus Weißrussland am Neujahrsmorgen des beginnenden 20. Jahrhundert im New Yorker Hafen auf Ellis Island angekommen war und kaum Englisch sprach. Er kam beim Warten auf der Einwanderungsbehörde mit einem anderen russischen Emigranten ins Gespräch, der ihm riet, nicht seinen russischen Namen Renzi Leznikoff anzugeben, sondern einen amerikanischen. „Sag ihnen, du heißt Rockefeller.“ Eine Stunde verging und noch eine Stunde. Dann geriet er endlich an den amerikanischen Einwanderungsbeamten, der ihn nach seinem Namen fragte. Renzi Leznikoff fasste sich an die Stirn und platzte auf jiddisch heraus: „Ich hobe fergusoon.“ Und so begann die Geschichte seines Großvaters in Amerika als Ickebod Ferguson. Trotzdem fühlt sich sein Enkel Archie Ferguson als Vollblutamerikaner mit allen gottgegebenen Rechten und genau diese Geschichte ist das, was mich an Amerika und seiner enormen Dynamik fasziniert. Es kommt nicht darauf an, woher du kommst, sondern nur, wer du gerade bist und wer und was dich umgibt.
Paul Richter** liest das Buch seines Lebens.
„Rangas Welt: Ach so! & Sonst noch Fragen?“
von Ranga Yogeshwar
Ranga Yogeshwar: Rangas Welt: Ach so! & Sonst noch Fragen? war das Buch, welches mich geprägt hat.
Gesehen habe ich es in der Buchhandlung am Flughafen Tegel vor dem Abflug nach Malaga. Ich war 13 und Yogeshwars Art zu denken, seine Sicht auf die Welt sowie seine Lebensgeschichte haben mich sehr beeindruckt. Gelesen habe ich es dann im wahrsten Sinne des Wortes im Flug. Es fing damit an, wie in seiner Kindheit in Indien die Lust am Entdecken und Fragenstellen geweckt wurde, ganz besonders durch seinen Vater. Im Buch werden Fragen aus dem Alltag gestellt und beantwortet.
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„Sein Eigensinn ist genauso stark wie meiner.“
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In seiner Neugier und seinem Weitblick über die Dinge hinaus fand ich mich selbst wieder. Er ist wie ich ein unangepasster Querdenker, der scheinbar selbstverständliche Dinge hinterfragt und sich nicht vom Offensichtlichen täuschen lässt. Am deutlichsten ist dies während seiner Schulzeit geworden. Auch konnte er stundenlang einem Regenwurm beim Fressen zuschauen und vergaß dabei schon mal die Hausaufgaben.
Ja, damit konnte ich mich mit 13 sehr stark identifizieren. Sein Eigensinn ist genau so stark wie meiner.
**Die Texte von Oliver Richter und Paul Richter entstanden in der Schreibwerkstatt Marzahn, ein Treffpunkt für junge Autorinnen und Autoren in der Bezirkszentralbibliothek „Mark Twain“. – Kursleiterin war Renate Zimmermann.
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